Soziale Medien:Entwertete Privatheit

Öffentliche Billigung statt Gewissen, Außenkontrolle statt Innenkontrolle - die Renaissance des Prangers: Ein Leser macht sich große Sorgen um die Freiheit der Gedanken in einer von digitalen Interessen gesteuerten Zukunft.

"Das große Beichten" vom 20. Dezember:

Die von Nathalie Weidenfeld beschriebene Entwicklung ist besorgniserregend und schon weiter fortgeschritten, als in ihrem Artikel deutlich wird. Es handelt sich nicht nur um eine schleichende kulturelle Entwertung der Privatheit sowie die Wiederbelebung einer akklamierenden oder missbilligenden Öffentlichkeit, wie auf dem Pranger, sondern auch um ein digitales Geschäftsmodell mit riesigen Gewinnerwartungen.

Auch in die Techniken des Privaten (wie die Psychotherapie) ist die Entprivatisierung als Praxis eingezogen. In den USA wird von vielen Psychoanalytikern "Teleanalyse" als kundengerechte Technik angeboten, trotz der nachweislich ungesicherten Diskretion und damit Ungeschütztheit höchst privater Inhalte. Der Deutsche Psychotherapeutentag hat jüngst gegen alle Bedenken wegen mangelnder Diskretion die Ferntherapie nach einmaligem Pro-forma-Kontakt zugelassen, um ein marktgerechtes und kostengünstiges Angebot zu machen und in der gesetzlich vorgeschriebenen Entwicklung zur E-Health nicht hintanzustehen. Danach könnte man eine psychoanalytische Kur, die als profane Einrichtung die Beichte beerbte und sich dieser Tradition auch immer bewusst war, auf dem Marktplatz durchführen.

Das ist das Ergebnis permanenter Entwertung von Privatheit und Diskretion, die mit promoteten Publikationen von Seiten der Digitalindustrie schon länger betrieben wird: historisch belegt - Privatheit als illegitimer Rückzug von der Agora - oder lächerlich gemacht - Erik Schmidt bemerkte, die Deutschen halten sich im Netz schamhaft bedeckt und gehen nackt in die Sauna.

Für die Zukunft ist Schlimmeres zu erwarten: Wenn die öffentliche Billigung das Gewissen als Verhaltensregulativ ablöst, Außenkontrolle anstelle von Innenkontrolle, Sozialangst anstelle von Gewissensangst tritt, dann erfüllt das die Interessen der boomenden digitalen Industrie, die gefühlte Sicherheit als Produkt anbietet. Kontrollallmacht ersetzt die Stimme des Gewissens, die ehemals auch im dunkelsten Keller nicht verstummen wollte; wenn es keine Binnenregulierung mehr für das Individuum gibt, müssen alle ständig überwacht werden. So könnte sich die Dystopie von "1984" als kulturell erforderlich erweisen.

Jürgen Hardt, Wetzlar

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