Rudolf Steiner:Anthroposophische Theorien

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Viele Querdenker nehmen Bezug auf die Schriften von Rudolf Steiner, wenn es ums Impfen geht. Doch wie stand der Begründer der Anthroposophie zur Impfung? SZ-Leserinnen und -Leser verteidigen sein Werk und ziehen Rückschlüsse daraus auf die Corona-Pandemie.

Rudolf Joseph Lorenz Steiner (1861 bis 1925), der Begründer der Anthroposophie, glaubte, dass das Impfen grundsätzlich problematisch sei. (Foto: imago stock&people)

Zu "Bestrafung aus dem letzten Leben" vom 24. November:

Verunglimpfendes Zerrbild

Sind die Anthroposophen verantwortlich für die Millionen von Ungeimpften? Die Berichterstattung der Süddeutschen Zeitung in den letzten Tagen und Wochen suggeriert genau das. Anthroposophische Impulse in unserer Gesellschaft sind verbunden mit biodynamischer Landwirtschaft als Alternative zur industriellen Verwüstung im Landbau, mit einer Pädagogik, die die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes fördert und überdurchschnittlich viele Abiturienten (und auch einen Nobelpreisträger) hervorgebracht hat, mit einer Medizin, die im ambulanten und klinischen Bereich seit über 100 Jahren erfolgreich eine notwendige Ergänzung zur konventionellen Schulmedizin darstellt, und mit Wirtschaftsinstitutionen, die mit einem andersartigen Umgang mit Geld, Gütern und Ressourcen beweisen, dass unser Wirtschaftssystem auch ohne persönliches Gewinnstreben und die Ausbeutung von Natur und Menschen möglich ist.

Ganz anders als diese Realität ist das Zerrbild, das die SZ liefert. Da wird wahrheitswidrig behauptet, Steiner und die Anthroposophen würden naturwissenschaftliche Erkenntnisse auf geistigem Weg erreichen wollen. Das ist schlichtweg falsch! Anthroposophie strebt bei uneingeschränkter Anerkennung der wissenschaftlichen Tatsachen eine Erkenntnis auch des Übersinnlichen an. Aber nicht nur qualitativ, also was die Inhalte und Früchte anthroposophischer Initiativen angeht, wird in der SZ ein bewusst schädigendes und verunglimpfendes Bild gezeichnet.

Auch quantitativ ist klar erkennbar, dass bei weit über 20 Millionen ungeimpften Menschen hierzulande der Einfluss der zahlenmäßig marginalen Gruppe von Anthroposophen von nicht einmal einem Prozent der Ungeimpften gar nicht ins Gewicht fallen kann. Gleichwohl setzt die Süddeutsche Zeitung eine seit Langem zu erlebende Kampagne fort und nimmt dabei in Kauf, dass - auch durch Vereinseitigung, Verfälschung und Herabwürdigung - einer heterogenen gesellschaftlichen Gruppe der Eindruck entsteht, es handele sich um vaterlandslose Gesellen, die durch ihr skurriles Weltbild die Volksgesundheit in Gefahr brächten.

Ganz abgesehen davon, dass angesichts rasant wachsender Zahlen von Impfdurchbrüchen die Pauschalverurteilung nicht geimpfter Menschen auf immer wackligeren Füßen steht, weckt eine als diffamierend zu bezeichnende Berichterstattung einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe ungute Erinnerungen an dunkle Zeiten in unserer deutschen Geschichte. Es ist mehr als traurig, feststellen zu müssen, dass sich eine einstmals meinungsoffene, tolerant-liberale Zeitung wie die SZ zu einem solchen Niveau erniedrigen konnte.

Dr. med. Marcus Roggatz, Sölden

Wissenschaft ernst nehmen

Als ehemaliger Waldorfschüler beobachte ich seit Beginn der Pandemie mit grausiger Faszination, wie Teile der "anthroposophischen Szene" auf Corona und die verhängten Maßnahmen reagieren. Die jüngste mediale Debatte über den Einfluss Steiners finde ich daher richtig. Sie übersieht aber zwei wesentliche Aspekte: Erstens sind die Ansichten in der Szene vielfältiger, als der Artikel suggeriert.

Meines Wissens war Steiner selbst geimpft und sah darin keinen Verstoß gegen seine Lehre. Zweitens: Anthroposophen haben kein Monopol auf Wissenschaftsleugnung. Im Gegenteil: Die in der Zeitung abgebildeten Simulationen des RKI sind lange bekannt. Wer Wissenschaft ernst nimmt, hätte im Oktober handeln müssen, als die gemessenen Inzidenzen sich an die simulierten Kurven schmiegten. Wer wissenschaftlichen Methoden traut und Impfpflichten möchte, hätte diese im September fordern müssen, um rechtzeitig ausreichende Quoten zu erzielen. Doch Politiker aller Ebenen und Farben blieben untätig, versprachen lieber: "Nie wieder Lockdown."

Jetzt sehen wir die Konsequenzen: Neu-Ulm gründet eine Triage-Kommission. In Deggendorf fürchtete man, "dass der Weg von der Individualmedizin zur Katastrophenmedizin vielleicht schon an diesem Wochenende beginnt". Starnberger Schlaganfallpatienten werden bis Hannover verlegt. Der Rat der Wissenschaft ist eindeutig: "Massivste Kontaktreduktion, sofort!", wenn wir Bergamos Leichenlaster in Rosenheim und New Yorks Massenbegräbnisse im Englischen Garten vermeiden wollen.

Sehr wenig bringt dagegen akut eine (allgemeine) Impfpflicht. Spitzenpolitiker, die durch die aktuelle Debatte wirksamere Maßnahmen verhindern und Menschen aufbringen, sind gefährlichere Wissenschaftsleugner als alle Anthroposophen Deutschlands zusammen. Ihr Auditorium sind nicht ein paar Dutzend Waldorfeltern, sondern 80 Millionen Deutsche. Daher bitte ich sie: Verschiebt die Diskussion aufs Frühjahr! Zeigt der Bevölkerung, was nun wirklich zählt! Macht alles dicht! Rettet unser Land vor der humanitären Katastrophe und seine Menschen vor dem Erstickungstod!

Arvid Jäkel, Jena

Zur Selbstbestimmung angeleitet

Es wird in diesem Artikel die Einstellung des Anthroposophen Rudolf Steiner zum Impfen hinterfragt. Richtig wird zitiert, dass er das Impfen als eine Möglichkeit betrachtete, "den Menschen die Hinneigung zur Spiritualität auszutreiben". Man kann diese Aussage für lächerlich halten und darüber hinwegsehen. Im Anbetracht der Tatsache aber, dass Rudolf Steiner sehr tief mit dem Christentum verbunden war, kann sie auch Anlass geben, darüber nachzudenken. Sein Christusverständnis geht allerdings über das der herkömmlichen Kirchen hinaus, weshalb er in diesen Kreisen, und leider nicht nur da, eher abgelehnt wird.

Es gilt aber: An seinen Taten kann man einen Menschen erkennen. Wer einmal in einem anthroposophischen Krankenhaus behandelt wurde, in dem man sich als Kranker würdevoll und als ganzer Mensch behandelt fühlen kann, oder wer Gelegenheit hatte, den freien Geist der von Steiner gegründeten Waldorfschulen zu atmen, im Gegensatz zu unseren von Lehrplanerfüllung getriebenen Staatsschulen, der ahnt, welche Größe dieser Mann hatte und dass er alles andere war als ein Guru, der Selbstbeweihräucherung wollte. Er hat wie kaum ein anderer seine Mitmenschen zur Selbstbestimmung und Freiheit angeleitet.

Wenn nun so einer diese Äußerung zur Impfung im Allgemeinen macht, ohne sie generell abzulehnen, dann sollte man das ernst nehmen. Wie sehr haben wir letztlich darunter zu leiden, dass die Welt immer materialistischer wird, die Erde und auch die Arbeitskraft der Menschen ausgebeutet wird. Wenn es tatsächlich wahr wäre, dass durch das Impfen diese Welt noch materialistischer werden würde, diese Welt, die sowieso schon an einem Verfall der Werte krankt und dahinsiecht, dann kann uns das zu denken geben.

Man fragt sich vielleicht sorgenvoll: Was macht es mit einer Gesellschaft, aus diesem Blickwinkel betrachtet, in der schon Kinder gegen Corona durchgeimpft werden sollen? Und dies ganz ohne Not, denn die wirklich Gefährdeten sind die alten Menschen, die sich ja selber durch eine Impfung schützen können. Man kann einwenden, Steiners Angaben müsste man schlichtweg glauben. Das ist sicher so, solange man keine Möglichkeit zur Vertiefung hat. Aber wie steht es mit der Annahme, mit einer Durchimpfung der gesamten Bevölkerung wäre das Coronavirus endgültig zu besiegen? Ist das mehr als ein Glaube, nur weil wir es gerne so hätten? Sollten wir den Kindern nicht besser die Chance geben, ihr eigenes Immunsystem mithilfe einer Corona-Infektion zu stärken?

Noch eine wichtige Anmerkung zur Überschrift des Artikels "Bestrafung aus dem letzten Leben". Steiner hat im Zusammenhang mit seinen Ausführungen über Karmazusammenhänge nie von Strafe geredet. Das ist eher die Diktion der Kirche. Teilt man seine Weltanschauung, dann bedeutet Karma nichts anderes, als dass jede Handlung im nächsten Leben ihre Folgen nach sich zieht. Wie schon in der Bibel steht: "denn ihre Werke folgen Ihnen nach."

Gabriele von Moers, München

Kritische Aufarbeitung fehlt

Die kritische Auseinandersetzung mit der Anthroposophie basiert auf wenigen Kronzeugen, die immer wieder rezipiert werden, ohne dass die Diskussion über deren Aussagen berücksichtigt wird. Einer davon ist Helmut Zander. Seine Arbeiten mit einem klaren Interesse an einer Entmythologisierung bestimmen das mediale Bild, nicht aber den Stand der Forschung, zu dem die kontroverse Diskussion darüber gehört. Hier wurde er zu einer Studie von Oliver Nachtwey und Nadine Frei befragt, die wiederum explizit ohne Überprüfung auf Zander basiert.

Helmut Zander wiederholt in dem Interview seine bekannten Thesen, die zu einem nicht unerheblichen Teil auf nicht sauber erarbeiteten Begriffen und Darstellungen von Zusammenhängen beruhen. Ein Beispiel: Er spricht von einem "anthroposophischen Wissenschaftsverständnis, das wir an der Universität nicht mehr mittragen". Abgesehen davon, dass hier der gegenwärtige plurale und komplexe wissenschaftstheoretische Diskurs unterschlagen wird, wird das anthroposophische Verständnis durch die nicht nachvollziehbare Behauptung gekennzeichnet, dass Rudolf Steiner naturwissenschaftliche Erforschung durch "geisteswissenschaftliche Methoden übersinnlicher Erkenntnis", über die man nicht mehr diskutieren könne, ablösen wolle. Dagegen ließe sich durch genauere Lektüre zeigen: Steiner wurde nicht müde zu betonen, dass die Präzision naturwissenschaftlichen Arbeitens auch auf dem Gebiet der Geisteswissenschaften erreicht werden müsse!

Ähnliches ließe sich für die weiteren Aussagen Zanders ausführen. Es ergibt sich dabei immer dasselbe Muster: Statt sauber erarbeiteter Aussagen, Behauptungen und Hypothesen, um dann festzustellen, dass das nicht unserem heutigen Standard entspricht, und dann die Unterscheidung von dogmatischen Anthroposophen (so in der Studie), die angeblich diesen Hypothesen folgen, und undogmatischen - das sind die, die den zuvor konstruierten Dogmen nicht folgen.

Die oben genannte kritische Auseinandersetzung mit der Anthroposophie beruht auf einer Wiederholung solcher Aussagen, ohne Überprüfung und transparente Diskussion zum Beispiel durch Darstellung unterschiedlicher Positionen - was die Aufgabe eines kritischen Journalismus wäre.

Dr. Rüdiger Damm-Blumrich, Utting

© SZ vom 21.12.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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