Süddeutsche Zeitung

Missbrauch in Rotherham:Über das Unbegreifliche

Lesezeit: 7 min

Es ist nicht leicht, über Menschen zu schreiben, die voller Angst sind. Aber manche Geschichten müssen erzählt werden. Wie die des Missbrauchsfalls im britischen Rotherham.

Von Cathrin Kahlweit, London

Über Politik und Politiker zu schreiben, ist vergleichsweise leicht. Zumal wenn man als Korrespondentin in einem Land wie Großbritannien lebt, in dem die Pressefreiheit ein hohes Gut ist, in dem es eine gut geölte Demokratie, funktionierende Behörden und genügend eitle Menschen gibt, die nichts lieber tun, als ihr eigenes Handeln wortreich zu erklären und auf eine möglichst freundliche Berichterstattung zu hoffen. Brexit, Theresa May, Boris Johnson, Schlammschlachten im Wahlkampf und Wortgefechte im Unterhaus: Alles liegt offen da. Man muss nur lesen, hören, fragen, zitieren, verstehen.

Was aber, wenn man über Menschen schreibt, die nicht erkannt werden wollen, die voller Scham oder Angst sind? Deren Leid man nicht ausstellen, deren Geschichte man aber exemplarisch erzählen will, weil sie ein größeres Unglück, eine schreckliche Ungerechtigkeit offenlegt?

"Vulnerable", verletzlich, nennen die Briten Menschen, denen gegenüber auch Journalisten eine besondere Fürsorgepflicht haben. Als ich relativ neu auf meinem Posten in London war und vor lauter Brexit-Berichterstattung kaum noch geradeaus schauen konnte, stolperte ich über eine Meldung in der Times. Darin wurde ein Prozess gegen mehrere pakistanische Männer in Rotherham angekündigt, einer Stadt nordöstlich von Sheffield. Die Anklage lautete auf "Grooming", Vergewaltigung und Zwangsprostitution.

Ich kannte das Wort Grooming nur aus einem positiven Kontext: jemanden umwerben, den man mag. Was sich aber hinter dem anstehenden Prozess in Rotherham verbarg, war eine andere Art von Grooming: Ein Erwachsener freundet sich, nur scheinbar, mit einem Kind an, um es sexuell auszubeuten.

Ich las mich ein, verständnislos zuerst, dann fassungslos, dann wütend. Vor allem ein renommierter Reporter hatte die ungeheuer wichtige Arbeit geleistet, den Skandal offenzulegen: Andrew Norfolk von der Times hatte wieder und wieder Geschichten aus Rotherham gehört, er konnte sie nicht glauben und ging ihnen irgendwann nach.

Was er fand und in einer ganzen Serie von Artikeln aufschrieb, löste 2014 eine Empörungswelle aus - nicht nur, weil die Sache an sich unfassbar war, sondern weil die Rechercheergebnisse gegen jede politische Korrektheit verstießen: In Rotherham, aber auch in Dutzenden anderen britischen Städten, gab es offenbar regelrechte Grooming Gangs. Sie bestanden ganz überwiegend aus Migranten - muslimische Asiaten, meist aus Pakistan und Indien. Alle Fälle folgten dem gleichen Muster: Junge Männer, oft Taxifahrer oder Betreiber kleiner Garküchen, machten Jugendliche und Kinder gefügig. Erst wurden die Kinder manipuliert, dann zu Sex und Diebstählen gezwungen, schließlich an andere, meist ältere Männer weitergegeben. Allein in Rotherham meldeten sich, als der Skandal endlich öffentlich wurde, mehr als 1400 Opfer.

Dabei war es nicht so gewesen, dass niemand von der Sache wusste: Mehr als zwei Jahrzehnte lang hatten Eltern, Sozialarbeiter, auch die jungen Frauen selbst die Türen von Polizei und Stadtverwaltung eingerannt. Aber niemand wollte sie anhören. Polizei und Behörden fürchteten Rassenunruhen und den Vorwurf des Rassismus; schließlich waren die Täter fast alle Einwanderer, ihre Opfer weiß. Diese Opfer und ihre Familien galten als "selbst schuld". Es gab Beweise, die verschwanden. Zeugenaussagen, die nicht ernst genommen wurden. Ordner mit Daten, DNA-Spuren und Protokollen. Sie wurden ignoriert. Sozialarbeiterinnen gingen in die muslimische Community, zu den Imamen, in die Moscheen, und sagten: Hier, wir haben Namen, Adressen. Redet mit den Familien dieser Männer. Macht, dass das aufhört. Nichts geschah.

Eine Untersuchung kam zu einem vernichtenden Urteil: Den Behörden wurde kollektives Versagen, Ignoranz, Überforderung und Vertuschung vorgeworfen. Aber niemand wurde zur Rechenschaft gezogen.

Reporter tragen gewöhnlich zwei innere Aufträge im Herzen: Vordringlich natürlich gilt es, Sensationelles aufzudecken und Neues zu erzählen. Aber dazu kommt eine zweite Pflicht: nachhaken, Fäden wiederaufnehmen, dranbleiben.

Ich wollte also wissen: Was hat Rotherham, was hat die britische Gesellschaft daraus gelernt? Welche Konsequenzen wurden gezogen? Wie konnte es sein, dass so etwas gleich in Dutzenden Städten passierte? Und wie konnte es sein, dass so wenige Männer verurteilt worden waren?

Meines Wissens gab und gibt es vergleichbare lokale Strukturen in Deutschland nicht; aber wer weiß das schon. Frauenhandel und Zwangsprostitution, Missbrauch und Misshandlungen, Ausbeutung und Unterdrückung machen weder vor Grenzen noch vor Religionen oder Ethnien halt. Ich wollte diese Geschichte also unbedingt erzählen: Sie zeigte wie unter einem Brennglas so viele Probleme gleichzeitig auf, die man sehr wohl auf jede andere Gesellschaft übertragen kann. Andrew Norfolk hatte sich ein historisches Verdienst erworben: Der britische Reporter hatte nicht weggeschaut, sondern Behörden und Polizei mit seiner Ein-Mann-Berichterstattung letztlich gezwungen, sich mit der Sachlage zu befassen. Ich konnte, als deutsche Reporterin für eine deutsche Zeitung, nur nacharbeiten, nachfassen, verstehen. Aber letztlich ist jeder Artikel über organisierten Missbrauch eine Chance, ein Schlaglicht auf die Opfer zu werfen und für das Thema zu sensibilisieren - unabhängig von dem Land, in dem man lebt oder aus dem man kommt.

Deutschland diskutierte zu diesem Zeitpunkt, nicht lange nach der Flüchtlingskrise 2015/2016, darüber, ob junge Migranten ein problematisches Frauenbild haben und ob die Flüchtlinge mehr Gewalt und Kriminalität ins Land trügen. In England diskutierte man stattdessen darüber, ob es sich bei den muslimischen Banden um Pädophile oder um Menschenhändler handelte. Wie erzählt man davon, ohne sich selbst dem Vorwurf des Rassismus auszusetzen? Und wie erzählt man so etwas als Frau, ohne automatisch einseitig Partei zu ergreifen? Es gibt darauf natürlich keine Generalantwort, außer: mit Distanz und Sorgfalt, aber auch mit Wärme und Empathie.

Sammy Woodhouse war und ist bis heute eine der ganz wenigen Frauen unter den vielen Tausend Opfern, die ihren Namen und ihre Geschichte öffentlich gemacht haben. Sie hatte gerade ihre Anonymität aufgegeben, als ich über ihren Fall las. Woodhouse lebt versteckt in einem Vorort von Rotherham; ich erreichte sie über einige Umwege via Social Media. Sie war bereit zu reden, aber niemand durfte ihre Adresse erfahren, niemand ihre Kinder sprechen. Zu gefährlich, zu traumatisch.

Viele andere Türen blieben verschlossen. Die Behörden teilten mit, es gebe nichts mehr zu sagen. Die Polizei schickte Statistiken mit Tätigkeitsberichten. Wer nachfragte und weiterbohrte, störte. Zu peinlich, zu imageschädlich. Öffentliche Aufmerksamkeit war, trotz aller Bekenntnisse und Beschwörungen, unerwünscht. Es wurde lieber weiter geschwiegen.

Eine solche Recherche ist ein Puzzlespiel. Man tastet sich von Gesprächspartner zu Gesprächspartner, fährt auf Verdacht zu Interviews, die dann nicht stattfinden, schreibt Dutzende Mails an Verantwortliche, die nicht antworten, treibt sich herum, hofft auf Zufälle, redet mit Fremden. Woodhouse erzählte mir ihre Geschichte, unterbrochen von Tränen und Selbstvorwürfen. Man schweigt dann viel und leidet mit. Ihr Anwalt erklärte mir die Hintergründe. Er vertrat auch andere Frauen: junge Mädchen, die in den vergangenen Jahren zwangsprostituiert worden waren. Der Jurist erzählte mir ihre Geschichten. Er selbst hatte Mühe, die innere Distanz zu wahren.

Ich fuhr zu Norfolk, dem Times-Reporter, der damals eigentlich nicht mehr über Rotherham schreiben oder reden wollte. Er bekam die Bilder nicht mehr aus dem Kopf. Aber er gab mir ein paar Tipps für Orte, an denen ich Menschen treffen könnte, die Dinge erlebt hatten, die man seinem schlimmsten Feind nicht wünscht. Wieder ließ ich mich in der Stadt treiben, setzte auf Zufälle, sprach mit Fremden. Manchmal hört und sieht man mehr, wenn man nicht vorausplant.

Dann willigte die Parlamentsabgeordnete für Rotherham, Sarah Champion, in ein Gespräch ein. Sie hatte sich öffentlich in dieser Causa positioniert, hatte davon gesprochen, dass "Großbritannien ein Problem mit britisch-pakistanischen Männern hat". Dafür war sie als Rassistin beschimpft worden, hatte einen einflussreichen Posten in der Labour-Partei verloren.

Sie war, als ich sie in ihrem Wahlkreisbüro traf, erkennbar frustriert und müde. Nichts habe sich geändert. 231 Mädchen hätten allein innerhalb eines Jahres Anzeige wegen sexueller Ausbeutung durch Grooming Gangs erstattet, sagte sie. "Mütter, einst selbst Opfer, kommen zu mir in die Sprechstunde, sie sind panisch. Sie sagen, Männer sprächen sie an und sagten: Deine Tochter ist fast schon so weit, sie ist reif." Alles gehe weiter, sagte Champion, die Täter und ihre Clans hätten jetzt Söhne, die die Töchter der Überlebenden abpassten. "Als sei das normal. Es dauert schon so lang, man hat sich daran gewöhnt."

Als ich sie im Frühjahr 2020 für diesen nachgetragenen Bericht noch einmal anrief, wollte sie nicht mehr mit mir sprechen. Dafür habe sie keine Zeit. In ihrer Partei ist sie bis heute eine Persona non grata. Sie leidet bis heute an der Realität, nicht an der Wahrheit.

Schließlich erklärte sich damals auch der vom Staat eingesetzte politische Aufseher über die Polizei, ein Vikar, bereit, mit mir zu reden. Er wollte versöhnen, verbinden und warnte davor, alle Muslime zu verurteilen. Das öffnete wiederum die Tür zur muslimischen Gemeinschaft, die ihr Entsetzen, ihre Trauer, ihre eigene Angst kommunizierte. Schritt für Schritt, Puzzlestein für Puzzlestein entstand das Bild einer zerrütteten Gemeinschaft, in der es mehr Opfer als die weißen Frauen und mehr Täter als die überwiegend pakistanischen Männer gab.

Es ist ein Balanceakt, eine solche Recherche schließlich in einen Artikel zu gießen. Wo endet das berechtigte Engagement, wo beginnt das Gemeinmachen? Wann wird aus Fairness sogar Haltungslosigkeit? Was ist noch politisch, was schon ideologisch? Ist die Tonlage sachlich genug oder schon zu sachlich? Wird man den Opfern gerecht? Fragen, Selbstzweifel.

Sammy Woodhouse hat sich seit unserem ersten Treffen in eine politische Aktivistin verwandelt. Sie hat - bis heute erfolglos - eine Initiative für eine Gesetzesänderung gegründet, die "Sammy's Law" heißt. Woodhouse möchte, dass die Strafakten der Opfer gelöscht werden, die von den Tätern oft zu kriminellen Akten gezwungen werden, um ihre Abhängigkeit zu vergrößern. Sie kämpft zudem für ein Gesetz, dass es Vergewaltigern untersagt, Kontakt zu ihren Kindern aufzunehmen. Und sie schreibt an ihrem zweiten Buch. Aber: Sie ist verbittert, weil so wenig weitergeht. Derzeit wird sie von "kleinen Gangstern", wie sie es nennt, erpresst. Wenn sie kein Geld rausrücke, werde man ihren Kindern etwas antun. Immerhin: Sie kämpft weiter, für sich und andere.

Ansonsten ist die Debatte verstummt, vielleicht hat sie aber auch nie wirklich begonnen. Das Innenministerium hält eine Untersuchung der "Charakteristika und des sozialen Kontexts von Grooming Gangs" unter Verschluss. Der frühere Innenminister Sajid Javid, der die Studie 2018 in Auftrag gegeben hatte, versprach damals, es werde keine "No-go-Areas" in der Untersuchung geben. Er werde nicht zulassen, dass kulturelle oder politische Empfindlichkeiten das Verständnis des Problems behinderten. Mittlerweile haben mehr als 100 000 Menschen eine Petition für die Veröffentlichung unterschrieben. Aber die Veröffentlichung sei, heißt es aus dem Ministerium, eben "nicht im öffentlichen Interesse". Die alten Tabus gelten fort.

Mich persönlich beschäftigt die Sache immer noch. Jede Konfrontation mit einem solchen Thema hinterlässt das Gefühl von Vergeblichkeit, wie kann es anders sein. Anders als viele politische Themen, über die zu berichten zum Alltagsgeschäft einer Korrespondentin gehört, verändert eine solche Recherche den Blick auf die Gesellschaft. Aber nichts ist ganz vergeblich. Nach wie vor, über Wochen und Monate versprengt, berichten britische Medien über einzelne Verfahren und Verurteilungen. In Dutzenden Städten gab oder gibt es Verfahren gegen Tätergruppen. Vielerorts dauern die Ermittlungen seit Jahren an.

Über neue Fälle liest man wenig. Aber es gibt sie.

Die Süddeutsche Zeitung wird 75 Jahre alt. Hier geht es zu allen Geschichten, Videos und Einblicken rund ums Jubiläum.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4896342
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.