Süddeutsche Zeitung

Regierungkoalition:Leuchtet die Ampel eher rot, gelb oder grün?

SZ-Leser sind einer möglichen rot-grün-gelben Regierung gegenüber optimistisch eingestellt. Dennoch beäugen sie kritisch, welcher Partei es gelingt, ihre Punkte im Sondierungspapier festzuhalten.

Zu "Berliner zehn Gebote" und "Mensch und Igel" beide vom 16. Oktober, zu "Zeit der Zaghaften" 9./10. Oktober, zu "Endlich mal für die Jungen" vom 4. Oktober und zu "Gift für Rot-Gelb-Grün" vom 2./3. Oktober:

Hoffnungsvoll

Wenn man da liest, wie die Verhandlungen zwischen SPD, Grünen und FDP verlaufen sind und dann noch deren Führungskräfte in positiv-optimistischer Weise vor den Kameras der TV-Sender und den Medien sieht, kann man richtig tief durchatmen und hoffen, dass da eine konstruktive Partnerschaft entsteht, die Alarmismus und Fundamentalismus vergessen lässt und die Probleme, aber auch die vielen Chancen aufgreift, unser schönes Land nach vorne zu bringen und Akzente zu setzen - im Interesse aller. Die CDU/CSU sollte sich neu aufstellen - die Zeit Merkels und der großen Koalition hat vieles nicht vorangebracht, was nun die Ampel hoffentlich angeht und schafft. Klar, dass nicht jede Seite ihre Themen eins zu eins unterbringt, aber das ist ja der für eine Demokratie so sehr wichtige Kompromiss und der notwendige Dialog. Nicht übereinander reden, sondern miteinander. Mich freut dies alles: als Bürger, als Mensch, als Demokrat, als FDP-Mann und als Freimaurer.

Sven Jösting, Hamburg

Themensetzung

Viele meiner Bekannten und ich sind erstaunt oder gar entsetzt über den Inhalt des "Sondierungsprotokolls". Während die FDP (11,5 Prozent der Mandate) alle ihre Forderungen - keine Steuererhöhungen, keine Vermögensteuer, keine Bürgerversicherung, Festhalten an der Schuldenbremse, kein Tempolimit - im Papier festgeschrieben hat, können SPD (25,7 Prozent) und Grüne (14,8 Prozent) ihre Ziele nur pauschal beschreiben. Sie stehen in allen Fällen unter Finanzierungsvorbehalt. Wenn Herr Lindner noch Finanzminister mit allen Sonderrechten wird, ist mit aufwendigem Klimaschutz und verbesserten Sozialleistungen kaum zu rechnen. Besonders krass und unverständlich ist die Ablehnung des Tempolimits. Die SZ hat vor der Wahl umfangreich dargestellt, dass diese Maßnahme keinen Aufwand, sondern nur Vorteile bringt. Die Einführung des Tempolimits, das es nur in Deutschland und Nordkorea nicht gibt, steht im Wahlprogramm von SPD und Grünen. Daran werden bei künftigen Wahlen viele denken.

Matthias Forst, Mönchengladbach

Eigenverantwortung

Die grün-rot-gelbe Pünktchenwolke zeigt vermeintlich eindeutige Ergebnisse: Grüne sind progressiv-ökologisch, SPDler traditionell-konservativ, beide neigen massiv zu Umverteilung. FDPler sind auch traditionell-konservativ, propagieren aber als Einzige ein Leben in Eigenverantwortung. In weiten Teilen also eine Bestätigung gängiger Klischees. Stimmen sie denn auch? Warum werden gegensätzliche Positionen so in den Vordergrund gerückt? Sollte es bei einer Regierungsbildung nicht genau darum gehen, Gegensätze aufzulösen und das Gemeinsame herauszufinden? Man braucht von allem - und zwar im richtigen Maß. Ja, Menschen sollen Eigenverantwortung für ihr Leben übernehmen. Dazu ist aber wesentliche Voraussetzung, dass Erziehung und ein Bildungssystem sie dazu befähigen und dass alle Menschen die gleichen Chancen haben. Und dass dies auf einem gemeinsamen gesellschaftlichen Wertekanon beruht. Menschenwürde und Freiheitsrechte sind im Grundgesetz eindeutig definiert. Aber es gehört eben noch ein bisschen mehr dazu. Respekt und Anerkennung für jeden in der Gesellschaft sollten selbstverständlich sein. Gleichzeitig bedarf es einer Gesellschaft, die große Lebensrisiken solidarisch absichert. Eigenverantwortung darf sich auch nicht zu einer Gesellschaft von Egomanen auswachsen, in der sich der Stärkere alles nimmt. Das Wohl des Einzelnen darf nie zulasten des Gemeinwohls gehen. Ein funktionierendes Gesundheitssystem, bezahlbarer Wohnraum, leistungsgerechte Entlohnung sind nur ein paar Beispiele zu diesen Werten. Und die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen steht möglicherweise an vorderster Stelle. Es wäre also das Wichtigste, dass sich die potenziellen Koalitionäre über gemeinsame Grundwerte verständigen. Das ist die Basis für alles weitere Regierungshandeln.

Gerhard Altschäffl, Windach

Aufbruchstimmung

Der schwierige, aber offenbar ernsthafte Versuch eines politischen Neuanfangs durch eine Ampelkoalition wird von Stefan Kornelius schon im Vorfeld verbindlicher Koalitionsverhandlungen kritisch, geradezu mäkelig kommentiert ("Zaghaftigkeit", "Kreisbewegung")? Warum? Kein Wort über die spürbare Aufbruchstimmung und das offensichtlich gemeinsame Ziel der drei Parteien, Deutschland substanziell zu modernisieren. Wo dem Autor der SPD-Kanzlerkandidat als zaghaft erscheint, ist Scholz vielleicht nur besonnen. Und dass die Medien nicht über jede Bewegung der Gesprächspartner informiert werden, ist nach den Erfahrungen vor vier Jahren nur klug. Wenn es den drei Parteien gelingt, sich in den kritischen Fragen der großen Schwerpunktthemen soziale Gerechtigkeit (SPD), Klimaschutz (Grüne) und Digitalisierung (FDP) auf gemeinsame Ziele zu verständigen, und wenn sich alle drei die (digitale) Bildung als zentrales Zukunftsthema zu eigen machen - haben sie alle Chancen, Deutschland fundamental zu verändern und sich von der vernünftigen, aber letztlich lethargischen Merkel-Politik zu befreien. Aber diese positive Perspektive zeigt der Leitartikel leider nicht auf, er bleibt skeptisch und kritisch, nach der Devise: Bad news is good news.

Prof. Dr. Ulrich Trottenberg, Köln

Versteckt im Appendix

Was für ein Gegensatz: Da geht ein Leitartikel anlässlich der Weltnaturkonferenz in Kunming mit seltener Eindringlichkeit auf das dramatische weltweite Artensterben und seine schon heute spürbaren Konsequenzen für unsere Wirtschaft ein, und in derselben Wochenendausgabe berichtet die SZ auf mehreren Seiten über das taufrische Sondierungspapier der Ampelkoalition. Die Begriffe Biodiversität, Artensterben oder Insektenschutz sucht man dort vergeblich.

Man mag es nicht glauben, liest im zwölfseitigen Papier selbst nach, und tatsächlich, das steht was: Zu Biodiversitätskrise, Landwirtschaft, Pestizideinsatz und Herkunftsbezeichnung bei Lebensmitteln, auf dürren neun Zeilen! Als verhuschter Appendix zum Kapitel 2 Klimaschutz. So wird das nichts mit dem Artenschutz. In Bayern hat vor zwei Jahren das Bienen-Volksbegehren gezeigt, wie sehr der Artenverlust die Menschen umtreibt. Sie spüren, dass es mehr Wertschätzung und sicheres Einkommen für unsere Landwirte braucht, dann bekommen wir auch wieder mehr intakte Landschaft, und Fauna und Flora können etwas aufatmen. Aber unsere Parteien scheinen immer noch nicht zu begreifen, dass Biodiversität für unser Dasein und Überleben genauso wichtig ist wie Klimaschutz.

Anton Burnhauser, Augsburg

Generationskampf

Zwischen Sorge und Empörung schwanken lässt mich der Kommentar von Henrike Rossbach. Die Verfasserin will ein Themenspektrum vom Rande der Gesellschaft in deren Mitte verschieben, zeichnet dazu ebenso pauschal wie dogmatisch ein Zerrbild von Situation und Interessenlage der Jungen. Natürlich verdienen auch gesellschaftliche Randerscheinungen ihren Platz und selbstverständliche Toleranz in unserem Zusammenleben. Im Interesse des immer fragilen gesellschaftlichen Gleichgewichts sollte man sich jedoch davor hüten, für diese Themen Dominanz und Priorität einzufordern und sie gar zur Grundlage einer Koalition zu ernennen. Ich bin mir sicher, dass auch ein bedeutender Teil der jungen Wähler von Grünen und FDP den von der Verfasserin propagierten "liberalen Vorstellungen" keineswegs in gleicher Weise wie diese anhängt und den von ihr mit Vorhaben aus der "zweiten Reihe" missionarisch vorgezeichneten Weg zu einem "gesellschaftlichen Aufbruch" mitzugehen nicht bereit ist. Wenn die Verfasserin zudem ein Bild von uns Älteren in der Pandemie als Bedroher beziehungsweise Räuber jugendlicher Freiheiten zeichnet, verschärft sie vorurteilsbeladene Gegensätze zwischen Jung und Alt und scheint einen Generationenkampf als neuen Klassenkampf herbeischreiben zu wollen.

Peter Maicher, Zorneding

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Quelle:
SZ vom 21.10.2021
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