Psychologie:Das Fremde am Fremden

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Wer als anders, seltsam oder bedrohlich wahrgenommen wird, hängt von der jeweiligen eigenen kulturellen Prägung ab. Diese unterliegt einem permanenten Wandel. Der Brief einer Leserin, die sich mit drei Psychologen auseinandersetzt.

"Wir gegen die anderen" vom 23. Juli:

Wie die Kölner Psychologen Alves, Koch und Unkelbach mit einer Reihe von Experimenten herausgefunden haben, beginnen "Konflikte zwischen Gruppen ... bereits auf der subtilen Ebene der Wahrnehmung und Kognition". Denn wahrgenommene Unterschiede führten eher zu einer negativen als zu einer positiven Bewertung des Anderen.

Der Mensch neige dazu, die Welt "automatisch" in ein Wir und ein Sie einzuteilen und die "eigene Horde" positiver zu bewerten als Menschen mit ungewohnter Äußerlichkeit. Die Feststellung dieses Automatismus - also dieser anthropologischen Konstante - erfolgt zu einem Zeitpunkt, in dem unsere Gesellschaft vermehrt und zunehmend aggressionsgeladen über Chancen und Verfehlungen kulturübergreifender Verständigung nachdenkt. Als in den Siebzigerjahren Sozialisierte habe ich das Gefühl, dass wir jedenfalls in der Theorie, wenn nicht Praxis, in dieser Hinsicht schon einmal weiter waren.

Die Betonung eines Wahrnehmungsautomatismus, demonstriert anhand von Experimenten mit "fiktiven Alien-Stämmen", lenkt von der Tatsache ab, dass kollektive Selbst- und Fremdwahrnehmungen wie alles andere auch historisch und kulturell determiniert sind: Wer als anders, seltsam oder bedrohlich wahrgenommen wird, hängt von der jeweiligen' eigenen kulturellen Prägung ab. Diese unterliegt einem permanenten Wandel.

Die Aussagen des Psychologenteams scheinen auf der Prämisse kulturell mehr oder weniger homogener Gruppen ("Stämme") zu beruhen. Dies ist nicht mehr zeitgemäß. Mit den Händen essende Japaner fallen nicht mehr weiter (als negativ) auf, wenn man in Familie oder Freundeskreis auch hin und wieder leckeres Fufu mit den Händen isst - ganz abgesehen von deutschen Esspraktiken (Bratwurst? Fingerfood?). "Gehäufter Kontakt verändert die Wahrnehmung", liest am Ende mit Erleichterung, wer nicht schon vorher den Artikel, entsetzt ob seiner Geschichts- und Realitätsferne, weggelegt hat.

Das vorgestellte Konfliktmodell ist unbrauchbar. Den Autoren der Studie ist "gehäufter Kontakt" mit kulturwissenschaftlichen, soziologischen, auch psychologisch inspirierten Forschungen zu Selbst- und Fremdwahrnehmung zu wünschen, die differenzierte Erklärungen für die hier genannten 'Automatismen' haben, sowie Vorschläge, wie xenophobischen Dispositionen durch Erziehung und Bildung entgegengewirkt werden kann. Ressentiments entstehen nicht "relativ automatisch, ohne dass man immer etwas dagegen tun könne."

Nach 500 Jahren desaströser, aber eben auch oft erfolgreicher kultureller Interaktionen ist zu antworten: man kann, man hat und man wird: durch gemeinsame Erfahrungen und durch politisch-ästhetische Bildung.

Prof. Dr. Gesa Mackenthun, Rostock

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