Süddeutsche Zeitung

Polen:Akuter Ost-West-Konflikt

Hat sich die EU demokratie­feindliche Eskapaden zu lange bieten lassen? Und wäre womöglich ein Rauswurf des europäische Werte missachtenden Mitgliedslandes besser als eine mühsame und schmerzhafte Integration?

Zu "Abbau Ost" vom 20. Oktober, "Polen stürzt die EU in eine Existenzkrise" vom 19. Oktober, "Ein Konflikt, der kaum noch zu lösen ist" und "Um Geld und Grundsätze", beide vom 9. Oktober:

Erst kommt der Profit

Die EU hat viel Geduld mit Polen und Ungarn. Dass gegen Polen und Ungarn immer noch keine wirksamen Maßnahmen wegen Abbau des Rechtsstaats verhängt werden, liegt wohl daran, dass die EU aus der EWG hervorgegangen ist. EWG ist die Abkürzung für "Europäische Wirtschaftsgemeinschaft" und nicht "Europäische Wertegemeinschaft". Oder, in Abwandlung eines Brecht-Zitats: Erst kommt der Profit, dann die Moral.

Klaus Weiß, München

Dann lieber ohne Polen

Polen und Ungarn untergraben systematisch das Grundprinzip der Rechtsstaatlichkeit der EU. Wer das Primat des EuGH ablehne, trete faktisch aus der EU als Rechtsgemeinschaft aus, stellte EVP-Fraktionschef Weber zu Recht fest. Doch das ficht weder Polens noch Ungarns Staatsführung an. Das Problem sind nicht Kaczyński und Orbán, denn Politiker dieser Machart wird es immer geben. Deren Interesse an der EU erschöpft sich am eigenen Machterhalt, der durch die Brüsseler Milliarden garantiert wird.

Das Problem liegt in den Konstruktionsfehlern der EU. Eine Staatengemeinschaft auf die Beine zu stellen, in der das Einstimmigkeitsprinzip gilt, war mehr als fahrlässig oder eben naiv. Ließe sich doch damit nicht einmal eine Klassenfahrt problemlos organisieren. Diesen fundamentalen Fehler zu korrigieren ist nahezu unmöglich, weil abwechselnd Polen und Ungarn dagegen sind. Sie schützen sich mit ihrem Veto gegenseitig vor Sanktionen, sobald Brüssel Anstalten macht, solche zu verhängen. Kaczyński und Orbán können sich derart sicher fühlen, dass sie sich regelmäßig erdreisten, sich über die Brüsseler Bemühungen vor aller Welt lustig zu machen. Um es klar und deutlich zu sagen: Polen und Ungarn haben mit den Grundprinzipien der EU nichts am Hut, sie wollen nur die Milliardenhilfen aus den EU-Fördertöpfen. Angesichts dieser unbestreitbaren Tatsache stellt sich schon die Frage, ob es sich die EU auf Dauer leisten kann, tatenlos dabei zuzusehen, dass Autokraten wie Orbán und Kaczyński die Grundprinzipien der Gemeinschaft mit Füßen treten und sie quasi entkernen. Wäre es nicht besser, idealistische Bedenken vom "gemeinsamen europäischen Haus" beiseite lassend, ein ernsthaftes Ausschlussverfahren gegen beide Staaten auf den Weg zu bringen? Dies könnte doch in der Bevölkerung beider Staaten einen Prozess in Gang bringen, an dessen Ende eine Abwahl von PiS in Polen und Fidesz in Ungarn stehen könnte. Ich denke, es wäre einen Versuch wert.

Josef Geier, Eging am See

Merkels langes Schweigen

Der Frontalangriff der polnischen Regierung auf die Europäische Union ist das Endergebnis einer fatalen Appeasement-Politik. Dass die Europäische Union dem Treiben in Warschau viel zu lange zugesehen hat und Polens PiS-Regierung sich nun für die frontale Konfrontation mit der EU entschieden hat, gehört leider angesichts der Relevanz Deutschlands zu den negativen Aspekten der Kanzlerschaft Angela Merkels. Der Grünen-Europapolitiker Sven Giegold hat vor nicht allzu langer Zeit insbesondere die Noch-Bundeskanzlerin für die Krise der Demokratie in Ländern wie Ungarn und Polen mitverantwortlich gemacht. Jahrelang habe Merkel klare Worte gegenüber Ungarn oder Polen gescheut. Beim Abbau europäischer Grundwerte dürfe es indes keine falsche Loyalität geben. Der Politologe Piotr Buras vom European Council on Foreign Relations (ECFR) hat dazu erklärt, aus Scheu vor einem Konflikt mit Polen und Ungarn habe Merkel zu wenig getan, um die Verletzung der Rechtsstaatlichkeit dort anzuprangern; ihre Zurückhaltung habe nichts gebracht und nur zur Eskalation geführt.

Siegfried Kowallek, Neuwied

Ein schwächelndes Gebilde

Die EU ist der Garant für ein friedliches und solidarisches Miteinander in Europa und mit der Welt. Dass die Europäische Union reformiert gehört und dies viel zu lange nicht vermocht hat, ist längst Teil ihres Image als schwächelndes, schwerfälliges Gebilde. Also stürzt nicht Polen die EU in eine Existenzkrise, sondern macht diese nur erneut offenbar. Zu einer demokratisch in einer Verfassung verankerten Verrechtlichung der EU gehört es ebenso, eine Reform des Verhältnisses der Organe EU-Rat und EU-Kommission herbeizuführen, als auch die Einstimmigkeit bei Entscheidungen zu Zweidrittelmehrheitsentscheidungen zu ändern. Dies würde die derzeitige Erpressbarkeit und unwürdige Klüngelei beenden.

Kai Hansen, Nürtingen

Europäische Cashcow

Bei der ersten Europawahl 2004 nach dem Beitritt Polens lag die Wahlbeteiligung dort bei 20,9 Prozent. Damals wurde ein polnischer EU-Abgeordneter in der SZ mit den Worten zitiert, da solle man sich nicht wundern, seine Landsleute sehen die EU nur als riesige Geldverteilungsmaschine. Wen wundert es also, dass der amtierende Ministerpräsident sich eine Einmischung in innerpolnische Angelegenheiten von Seiten der Geldgeber, neudeutsch "Cashcow", aufs Strengste verbittet? Niemanden.

Nach Hannah Arendt ist ein Problem der Moderne die Vermischung des Öffentlichen mit dem Privaten sowie des Gesellschaftlichen mit dem Politischen. Trotzdem fällt mir zu diesen Possen nur ein Beispiel aus der Praxis ein: Hilfesuchende Eltern berichten von ihrem Sohn, der sein Zimmer vermüllen lässt, die Nächte mit Online-Gaming verbringt, die Schule blöd findet und nun beginnt, seine Mutter zu beleidigen. Es handelt sich um ein gut situiertes, akademisch gebildetes Elternpaar. Der Sohn bekommt reichlich Taschengeld. Der Kühlschrank wird von Mama und Papa immer ordentlich gefüllt. Der Sohnemann darf regelmäßig, ausgestattet mit Extrageld, "shoppen" gehen. Seit Monaten wird von Seiten der Eltern versucht, mit vernünftigen Gesprächen beim Sohn die Einsicht in grundlegende Regeln des Zusammenlebens zu erwecken. Selbstverständlich erfolglos. Über Mediatoren und wohlmeinende "Friedensstifter" hat sich der Sohn schon des Öfteren lustig gemacht. Warum sollte der Sohn sein Verhalten ändern? Geschweige denn ausziehen? Werden die Polen auch nicht, wäre ja schön dumm.

Da bedarf es meist geduldiger Basisarbeit bei den harmoniebedürftigen Eltern, das Aufstellen und strikte Umsetzen von Regeln im Familienleben zu initiieren. Je länger der Sohn seinem Verhalten bereits frönen durfte, desto schwieriger wird das. Funktioniert das nicht, bekommt der Vater als Nächstes Schläge angedroht, sobald der Sohn etwas mehr ausgewachsen ist.

Dr. med. Thomas Lukowski, München

Votum in eigener Sache

Das allzu willfährige polnische Verfassungsgericht mag über das Ziel hinausgeschossen sein, als es den Vorrang europäischen Rechts zum Teil negierte. Doch der Grundsatzkonflikt ist damit nicht aus der Welt. Was passiert, falls der EUGH sich mit der Interpretation der Verträge in eine Richtung bewegt, die mit nationalem Rechtsverständnis unvereinbar ist? Hinzu kommt die Pikanterie, dass gegebenenfalls der EUGH als letzte Instanz quasi in eigener Sache entscheiden würde, für jeden Juristen ein Tabu. Dieses delikate Verhältnis auszutarieren ist übrigens eines der Motive der umstrittenen Europäische-Zentralbank-Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. Die Diskussion darüber ist noch nicht abgeschlossen, und sie ist überfällig.

Christoph Schönberger, Aachen

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Quelle:
SZ vom 30.10.2021
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