„Der ewige § 218“ vom 31. Oktober:
Ein bewährter Kompromiss
„Frauen wurden und werden für das gerichtet, was Männer angerichtet haben.“ Mit diesem Satz greift Heribert Prantl zu einer Metapher, die lange Zeit die Realität in Deutschland abbildete. Ende der 1980er-Jahre haben die Memminger Abtreibungsprozesse zudem gezeigt, dass es historisch fast ausnahmslos Männer waren, die Frauen und Ärzte anklagten und richteten. Im Jahr 1995 verständigten sich Politikerinnen der CDU/CSU, SPD und FDP auf einen Kompromiss, der die von Prantl beschriebene Frontstellung überwand und dem Selbstbestimmungsrecht schwangerer Frauen Rechnung trägt, ohne den Schutzanspruch des Ungeborenen in Abrede zu stellen.
Heute können Schwangere innerhalb der ersten zwölf Schwangerschaftswochen die Schwangerschaft beenden, ohne soziale oder medizinische Indikationen geltend machen zu müssen. Das Recht vermutet vielmehr (und zwar zu Recht), dass Frauen, die sich zu einer Abtreibung entscheiden, über gewichtige Gründe für diesen Schritt verfügen. Voraussetzung dafür ist, dass die schwangere Frau zuvor einen Beratungstermin wahrgenommen hat, bei der ihr ergebnisoffen Informationen und Hilfeleistungen angeboten werden und Alternativen zu einem Schwangerschaftsabbruch besprochen werden können. Diese Hilfeleistungen muss sie nicht in Anspruch nehmen, auch sonst treffen sie keine Mitwirkungspflichten. Auf dieser Grundlage werden pro Jahr rund 100 000 Schwangerschaften rechtssicher beendet. Diese Zahl liegt zwar deutlich unter den sehr hohen Abtreibungszahlen der 1980er-Jahre, ist aber international betrachtet alles andere als gering.
Strafverfahren gegen Frauen oder Ärzte sind seltene Einzelfälle. Stattdessen betreffen die große Mehrheit der insgesamt geringen Anzahl von Verurteilungen „wegen § 218“ gewalttätige Männer, die Frauen so malträtieren, dass mit dem Leib und Leben der Frau auch das Ungeborene zu Schaden kommt. Eine Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs käme mithin nicht Schwangeren zugute, sondern vor allem prügelnden Partnern. Kriminalpolitisch ist eine Streichung des § 218 daher gefährlich, gleichstellungspolitisch allenfalls von symbolischem Nutzen. Zudem ist jede Reform verfassungsrechtlich heikel, da sie den zwingend gebotenen Schutzanspruch des ungeborenen Lebens zu unterlaufen droht.
Ist es daher klug, längst zugeschüttete Frontlinien aufzureißen? Aus ethischer Sicht kann jedenfalls aus dem von Prantl bemühten Bild nichts Fruchtbares hervorgehen, zumal es an der Lebenswirklichkeit vieler Paare vorbeigeht: Männer entsprechen heute nicht mehr dem Klischee des Patriarchen, sondern tragen als Väter Verantwortung. Zudem unterstützen Staat und Gesellschaft Alleinerziehende heute deutlich stärker als zu Zeiten der Bonner Republik. Vor allem aber blendet die Gegenüberstellung von Mann und Frau das ungeborene Leben als schützenswertes Verfassungsgut aus. Dabei hat die Pränatalmedizin in den letzten Jahrzehnten wertvolle Erkenntnisse über die weitgehend selbständige Entwicklung des Ungeborenen geliefert, seine genetische und strukturelle Individualität beschrieben und sinnlich wahrnehmbar gemacht. Zudem sinkt das Alter, ab dem das Überleben von Frühgeburten außerhalb des Mutterleibs ermöglicht werden kann. Dem ungeborenen Menschen ein eigenes Lebensrecht grundsätzlich abzusprechen, liefe also nicht nur dem Empfinden eines großen Teils der Bevölkerung zuwider, sondern stünde auch im Kontrast zur Entwicklung in der Medizin.
In diesem mehrpoligen Spannungsfeld trägt das geltende Recht, gerade wegen seiner Kompromisshaftigkeit, dem Selbstbestimmungsrecht der Frau einerseits und dem Lebensschutz andererseits in einer praktikablen Weise Rechnung. Andere Länder hingegen führen bis heute ideologische Kämpfe oder schwanken wie die USA zwischen Extremlösungen, die nur eine Seite des Schwangerschaftskonfliktes betrachten. Diesen Weg sollte Deutschland nicht einschlagen. Auch Politik, Wissenschaft und Publizistik sollten in einer Zeit zunehmender Polarisierungen den Eigenwert von Kompromissen betonen anstatt Gegensätze zu markieren, die kein Gesetz, gleich welchen Inhalts, überwinden kann.
Michael Kubiciel und Kerstin Schlögl-Flierl, Augsburg(beide sind Mitglieder im wissenschaftlichen Beirat von Donum Vitae; Schlögl-Flierl ist Mitglied des Deutschen Ethikrates)
Selbstbestimmte Frauen
Recht formalistisch, weniger moralisch, setzt sich der Autor für eine Neuregelung des Paragrafen 218 ein und wirft der Bundesregierung Untätigkeit vor. Im Grunde läuft es auf eine alte Streitfrage hinaus: Wann beginnt das „beseelte“ Leben eines Menschen? Ich bin der Meinung, dass im Moment der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle das Leben beginnt, denn der Embryo wächst von diesem Zeitpunkt an, und damit ist er für mich ab diesem Zeitpunkt „beseelt“. Er ist kein Tumor, keine Zyste oder eine sonstige Zellentartung, also keine Krankheit. Warum sollte dann die Allgemeinheit in Form der Krankenkassen für seine Entfernung aufkommen? Es könnte für Notfälle (Vergewaltigung, Gefahr für das Leben der Mutter oder Ähnliches) Hilfsfonds geben. Einen generellen Anspruch auf Krankenkassenleistungen sehe ich jedoch nicht. Selbstverständlich sollte für solche Fälle eine Konfliktberatung obligatorisch sein, auch im Interesse der Frau. Es geht um die ethischen Fragen: „Was ist Leben? Was ist die Seele? Wie schützt man Leben?“
Für das Leben von Flora und Fauna haben politisch Aktive (vor allem aus der „grünen“ Ecke) viele wichtige Ideen entwickelt. Beim Schutz des menschlichen Lebens drückt man sich aber vor eindeutigen Aussagen und geht immer mehr in die im Moment angesagte, auch ideologisch motivierte Richtung, den Paragrafen 218 ganz abzuschaffen.
Unsere „Anything goes“-Gesellschaft legt großen Wert auf „Spaß haben“ und weniger auf „Verantwortung übernehmen“. Diese schiebt man dann gerne auf den Staat ab, anstatt vorher zu überlegen, worauf man sich einlässt. Ich bin übrigens eine strikte Gegnerin von Aktionen, bei denen man sich Frauen in den Weg stellt, die eine Abtreibung erwägen. Es gibt andere Mittel, mit diesem sensiblen Thema umzugehen: Nachdenken, offen miteinander reden, zuhören, sachlich bleiben.
Renate von Törne, Neustadt an der Waldnaab
Hinweis
Leserbriefe sind in keinem Fall Meinungsäußerungen der Redaktion, sie dürfen gekürzt und in allen Ausgaben und Kanälen der Süddeutschen Zeitung, gedruckt wie digital, veröffentlicht werden, stets unter Angabe von Vor- und Nachname und des Wohnorts. Schreiben Sie Ihre Beiträge unter Bezugnahme auf die jeweiligen SZ-Artikel an forum@sz.de. Bitte geben Sie für Rückfragen Ihre Adresse und Telefonnummer an. Postalisch erreichen Sie uns unter Süddeutsche Zeitung, Forum & Leserdialog, Hultschiner Str. 8, 81677 München, per Fax unter 089/2183-8530.