Süddeutsche Zeitung

Österreich-Kolumne:Nehammers falsche Zahl

Fünf Jahre nach der Flüchtlingskrise von 2015 machte der Innenminister eine Angabe zu unbegleiteten, minderjährigen Flüchtlingen - und lag dabei weit daneben.

Von Cathrin Kahlweit

Als ich Anfang der Woche mit einem rührend-altmodisch ratternden Zug, bei dem unentwegt die Abteiltüren aufschlugen und die Heizung nicht funktionierte, gen Süden nach Ljubljana fuhr, müssen sich meine Wege mit denen von Janez Janša gekreuzt haben. Der slowenische Ministerpräsident fuhr, vermutlich in einer Limousine mit Fahrer, gen Norden nach Wien, um Sebastian Kurz zu treffen. Lesen Sie hier mehr dazu.

Wer weiß, vielleicht sind wir just in Spielfeld aneinander vorbeigefahren - in jenem verschlafenen Ort an der Grenze zu Slowenien also, durch den sich vor sechs Jahren ein langer Treck erschöpfter Flüchtlinge Richtung Westeuropa schleppte. Jetzt ist Spielfeld wieder reizend und ruhig, an den Hängen rechts und links sieht man das erste Grün in den Weinspalieren, es duftet nach Süden und die Luft ist trotz der Kälte weich.

Ein Türl mit Seitenteilen an der Grenze zu Slowenien

Im kollektiven Gedächtnis des Landes ist Spielfeld aber vor allem verbunden mit der sogenannten Flüchtlingskrise 2015/2016. Und mit dem unsäglichen Satz ("Sager" sagt man dazu in Österreich) vom damaligen Kanzler Werner Faymann, in Spielfeld sei wegen der explosiven Lage ein "Türl mit Seitenteilen" geplant. Was er meinte, war ein Zaun; er wollte die Formulierung aber vermeiden. "Wir bauen keinen Zaun, wie ihn Ungarn gebaut hat", betonte der Kanzler damals, aber man wolle schließlich die Leute, die kämen, auch kontrollieren können.

Ich war damals, im Sommer und Herbst 2015, Korrespondentin unter anderem für Österreich, Slowenien und Ungarn - und reiste regelmäßig an die Grenze zu Serbien, wo die Ungarn bereits ein vier Meter hohes, stacheldrahtbewehrtes Bauwerk errichtet hatten, zum riesigen Flüchtlingscamp am Bahnhof in Budapest, an die österreichisch-ungarische Grenze nach Nickeldorf, wo der Treck aus dem Osten durchzog - und nach Spielfeld an der Südgrenze. Die Bewegung verlagerte sich damals sukzessive vom Ost- auf den Westbalkan, zeitweilig warteten bis zu 6000 Menschen täglich in dem kleinen Dorf in der Südsteiermark auf die Ein- und Durchreise, sie harrten im Niemandsland aus, die Stimmung war teilweise sehr aufgeheizt, Zelte wurden aufgebaut, Busse organisiert, doch der Rückstau wurde länger, die Stimmung schlechter. Als das Türl mit Seitenteilen aufgestellt wurde, war ich auch dabei; die Anlage an der Grenze selbst wirkte mit ihren Viehgittern und Dixiklos dann aber eher wie ein aufgelassener Bauhof. Es war eine aufwühlende, eine komplizierte Zeit, in der trotz allem eine gewisse Aufbruchstimmung mitschwang; deshalb ist auch der Sager der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel, "Wir schaffen das", legendär geworden.

Nehammer ließ wissen, er habe sich nur "versprochen"

Diese Woche war diese Zeit wieder ganz kurz präsent. Nicht nur, weil sich in Wien zu einer Protestkonferenz über die Impfstoffverteilung der EU neben Lettland mit Bulgarien, Tschechien, Slowenien und Kroatien vier Länder zusammengefunden hatten, die auch in der Flüchtlingskrise gut harmonierten; der Ungar Viktor Orbán schickte eine Solidaritätserklärung.

Die grundlegend unterschiedlichen Positionen in der Flüchtlingskrise wurden auch in einem kleinen Schlagabtausch noch einmal offengelegt, in dem es um humanitäre Folgen und politische Tricks ging. Als die Opposition vor einigen Monaten die Regierung anging, weil die partout keine Flüchtlinge aus Lesbos aufnehmen wollte (die ÖVP wollte nicht, die Grünen durften nicht), warfen die Türkisen ihre Windmaschine an und argumentierten, man habe sogar sehr viel getan. "Ich muss darauf hinweisen, dass Österreich allein in diesem Jahr 5000, ich wiederhole die Zahl, 5000 unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen Schutz gewährt hat", betonte Innenminister Karl Nehammer im vergangenen Dezember. Und Integrationsministerin Susanne Raab sagte: "Man tut gerade so, als dass Österreich hier im Land nichts leistet. Wir haben 5000 unbegleitete Flüchtlinge nur in diesem Jahr in Österreich aufgenommen."

Das ließ den Neos keine Ruhe, die umtriebige Abgeordnete Stephanie Krisper stellte eine parlamentarische Anfrage, weil sie die Zahl nicht glauben konnte. Heraus kam, dass die ÖVP-Zahl alle Minderjährigen einbezog, die schon im Land geboren sind, mit den Eltern oder im Rahmen einer Familienzusammenführung gekommen waren. Unbegleitete, minderjährige Flüchtlinge aufgenommen wurden 2020 stattdessen genau: 186.

Nehammer ließ danach wissen, er habe sich nur "versprochen". Er habe allgemein Minderjährige gemeint.

Ich verspreche Ihnen, dass nach einem sehr kalten und leider schneereichen Wochenende der Frühling kommt. Und dann der Sommer. Und alles andere, was Sie sich so wünschen, kommt mit der Wärme auch dazu. Oder zumindest fast alles. Ein paar Tage in der zauberhaften Südsteiermark sind jedenfalls allemal gut für die Seele. Und ein paar Gläser Grüner Veltliner helfen auch immer.

Diese Kolumne erscheint am 19. März 2021 auch im Österreich-Newsletter.

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