Im Mai 2019 wurden der SZ und dem "Spiegel" mehrere Stunden Videomaterial zugespielt, auf dem der damalige österreichische Vizekanzler Heinz-Christian Strache und sein Parteifreund Johann Gudenus in einer Villa auf Ibiza mit einer angeblichen russischen Investorin verhandeln. Die Ausschnitte aus den Videos sowie die Berichterstattung darüber lösten in Österreich eine Regierungskrise aus.
Die österreichische Staatskrise nimmt an einem lauen Juliabend auf Ibiza ihren Lauf: Vor einer weiß getünchten Villa in der Nähe des Örtchens Sant Rafel de Sa Creu hält ein Wagen. Aus dem Fahrzeug steigt der österreichische Spitzenpolitiker Heinz-Christian Strache, begleitet von seinem Parteifreund Johann Gudenus und dessen Ehefrau Tajana. Strache ist zu der Zeit, im Juli 2017, der Chef der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ) und deren Spitzenkandidat für die drei Monate später anstehende Nationalratswahl. Strache und das Ehepaar Gudenus treffen an diesem Abend eine junge Frau, die ihnen als schwerreiche Nichte eines Putin-nahen russischen Oligarchen vorgestellt wurde.
Mit ihr haben die beiden Politiker offenkundig Großes vor, sie haben eigens ihren Urlaub unterbrochen, um sie zu treffen. Am Ende, zwei Jahre später, wird genau dieses Treffen die FPÖ-Männer ihre Ämter kosten. Es wird die österreichische Regierungskoalition - in der die FPÖ seit der Wahl im Herbst 2017 mit der ÖVP von Kanzler Sebastian Kurz verbündet ist - zu Fall bringen und das Land in eine der größten politischen Krisen der Nachkriegszeit stürzen.
Etwa ein Jahr nach dem Abend auf Ibiza meldet sich ein Mann bei der Süddeutschen Zeitung. Er sagt, er habe Informationen über jemanden, der in Österreich höchste Regierungsverantwortung trage und anfällig für Korruption sei. Aus Gründen des Quellenschutzes offenbart die SZ weder den Namen dieser Person noch, ob diese Person allein oder mit anderen handelte.
Die Telefone werden ausgeschaltet. Dann fällt zum ersten Mal der Name Strache
Einige Tage später kommt es spätabends zu einem Treffen in einer deutschen Stadt. Ein kurzer Small Talk in einer Hotelbar, dann geht es in eines der Hotelzimmer. Die Telefone werden ausgeschaltet, eingesammelt und ins Badezimmer gebracht. Dann fällt zum ersten Mal der Name Heinz-Christian Strache.
Man habe dem Rechtspopulisten, der berüchtigt ist für seine früheren Verbindungen zur Neonazi-Szene und bekannt für seine Nähe zu russischen Politikern, eine Frau als steinreiche Russin vorgestellt, als Nichte von Igor Makarow, einem russischen Oligarchen. Diese Lockvogel-Frau habe erklärt, sie wolle sehr viel Geld nach Österreich bringen, das nicht einer Bank anvertraut werden dürfe, also Schwarzgeld sei. Bei einem Treffen der Frau mit Strache und Gudenus auf Ibiza sei die Sache dann eskaliert.
Von allem gebe es mehrere heimlich aufgenommene Videos, insgesamt mehrere Stunden Material. Auf einem Tisch in dem Hotelzimmer stehen allerlei technische Geräte, Kabel, Laptops und Tablets. Eines davon wird nun vorbereitet, um eine viertelstündige Kostprobe des Videos abzuspielen. Gewissermaßen ein "Best of Strache".
Dann ist das Treffen auch schon wieder vorbei. Die Reporter der Süddeutschen Zeitung haben eine Idee, was auf Ibiza passiert ist, aber das war es auch. Das Video bleibt zunächst unter Verschluss. Und ohne die Datei in Händen lässt sich auch nicht überprüfen, ob es sich womöglich um eine Fälschung handelt, sinnentstellend geschnitten oder gar manipuliert wurde.
Es vergehen Monate. Es gibt noch ein Treffen, aber das Video wird wieder nicht übergeben. Dann ein drittes und ein viertes Treffen: Diesmal bekommen die SZ-Journalisten Spezialbrillen ausgehändigt. Mit ihnen erscheint auf dem weißen Bildschirm eines Laptops plötzlich das farbige Überwachungsvideo aus der Villa auf Ibiza.
Oder besser gesagt: ein Video. Denn es gibt mehrere Videos. Das Hauptvideo ist rund 4:40 Stunden lang und von einer Kamera im Wohnzimmer der Ibiza-Villa gefilmt worden. Dort hat ein Großteil der Unterhaltung stattgefunden, während zuvor draußen gegessen und der Aperitif genommen worden war. Und auch dort waren Kameras installiert gewesen, ebenso wie in der Küche. So bekommen die SZ-Reporter erstmals ein vollständiges Bild dessen, was an jenem verhängnisvollen Abend bei Seebarsch-Carpaccio, Champagner und dosenweise Red Bull mit Wodka auf Ibiza vor sich ging: Der Kern der Geschichte ist ein unmoralisches Angebot, das die angebliche Russin Strache unterbreitet: Sie würde gern ein paar Hundert Millionen Euro in Österreich investieren - und will wissen, ob man dabei nicht zusammenarbeiten könnte. Ob also sie, die vermeintliche Oligarchen-Nichte, und Straches FPÖ nicht beide etwas von der Sache haben könnten.
"Die Spender, die wir haben, sind in der Regel Idealisten. Die wollen Steuersenkungen ..."
Das ist der Moment, in dem jeder Politiker, der nicht mit Korruption in Verbindung gebracht werden möchte, besser aufgestanden wäre. Nicht so Heinz-Christian Strache. Er bleibt sitzen und hört zu, wie die vorgebliche Investorin in Aussicht stellt, die Hälfte des höchst einflussreichen österreichischen Boulevardblattes Kronen-Zeitung zu kaufen - und die Zeitung dann zu nutzen, um Strache und seine FPÖ im Wahlkampf zu unterstützen. Strache, leger in weit ausgeschnittenem T-Shirt und Jeans, wirkt begeistert. Vor allem von der Idee, aber auch von der Russin selbst: "Bist du deppert, die ist scharf", entfährt es ihm.
Es steht also ein Geschäft im Raum an diesem Julitag 2017 in der Villa auf Ibiza: Russisches Geld aus unklarer Quelle soll das Wahlergebnis der FPÖ nach oben treiben. Und natürlich soll auch die angebliche Aljona Makarowa dafür etwas bekommen.
An diesem Abend wird sie, abwechselnd auf Russisch und Englisch, immer wieder wissen wollen, wie Strache sich nach der Wahl erkenntlich zeigen würde. Nach der Wahl, wenn Strache plangemäß in der Regierung sitzt. Das Geschäft, das im Raum steht, nennt man gemeinhin: Korruption.
Doch Heinz-Christian Strache, der sich gern als Saubermann der österreichischen Politik präsentiert, scheint davon unbeeindruckt zu sein. Er betont zwar im Laufe des Gesprächs wieder und wieder, dass er nur für legale Geschäfte zu haben sei. Im nächsten Augenblick aber erklärt er sich einverstanden mit Vorschlägen, die - sollten sie umgesetzt werden - eindeutig illegal wären.
Mal geht es darum, dass eine Regierung mit FPÖ-Beteiligung der angeblichen Russin staatliche Bauaufträge zuschanzen könnte, künstlich hoch dotiert. Mal geht es darum, wie sich die vermeintliche Russin erkenntlich zeigen könne: mit einer Spende an die FPÖ, verschleiert über einen Verein, "dadurch hast du keine Meldungen an den Rechnungshof". Einige sehr Vermögende würden diesen Weg auch schon nutzen.
Als Heinz-Christian Strache und Johann Gudenus zu hören bekommen, dass das Geld der Frau "eigentlich nicht ganz legal" und das Geschäft "legal heikel" sei, bleiben die beiden sitzen. Der FPÖ-Chef und der damalige Vizebürgermeister der Stadt Wien sind bei einem Treffen zugegen, das die meisten Politiker wohl nicht einmal erwogen hätten. Sie bleiben sitzen, mehr als sechs Stunden.
Dann, es ist schon weit nach Mitternacht, kurz bevor die beiden Politiker die Luxusvilla verlassen werden, befiehlt Strache seinem Freund Gudenus: "Joschi, mach das klar, mach das klar!" Und Johann Gudenus, genannt Joschi, geht los. "Aljona", ruft er die Russin, und dann sagt er etwas auf Russisch: "Es ist möglich, nur sagt er es nicht, verstehen Sie?"
Ein Ohrengutachten belegt: Es handelt sich um Strache und Gudenus
Er, das ist Strache. Der Parteichef, der Saubermann. Er sagt es nicht. Aber Joschi, der es jetzt klarmachen soll, Joschi sagt es. Sein Soldat, sein Ziehsohn, sein Gefährte. Und Joschi sagt zu der Frau, die angeblich viele illegale Millionen nach Österreich bringen will: "Wir sind zu hundert Prozent bereit zu helfen, egal, was kommt."
Aber auch wenn die Reporter der SZ im Herbst 2018 diese Sätze vom Mai 2017 hören können und in ihren Blöcken den Ablauf des Abends notieren -an eine Veröffentlichung ist erst zu denken, als ihnen das Material im Sommer 2019 dann tatsächlich übergeben wird, zum Teil spielfilmreif in einem verlassenen Hotel, nach einer Art Schnitzeljagd mit Geo-Koordinaten. Nicht nur die Süddeutsche Zeitung bekommt die Videos, auch der Spiegel, mit dem die SZ bei dieser Recherche kooperiert hat.
Zwei Gutachter bestätigen die Echtheit des Videos, ein Ohrengutachten - Ohren sind so einzigartig wie Fingerabdrücke - belegt zudem, dass es sich auf dem Video eindeutig um Strache und Gudenus handelt. Am 17. Mai 2019, um 18 Uhr, veröffentlicht die Süddeutsche Zeitung den ersten Artikel über das Treffen: "Das Video aus der Ibiza-Villa" ist auf der Seite eins zu lesen. "Die Ibiza-Affäre", titelt der Spiegel auf seinem Cover für die Österreich-Ausgabe.
Am nächsten Tag tritt Heinz-Christian Strache in Wien vor die Presse. Hinter ihm eine weiße Stellwand, "Vizekanzler" steht darauf. Vor ihm: unzählige Mikrofone, Kameras, Journalisten. Strache wirkt erschöpft. Er beklagt, dass man in der Vergangenheit schon des Öfteren versucht habe, ihn zu Fall zu bringen, "was aber hier vor zwei Jahren inszeniert wurde, hat eine völlig neue Dimension". Er sei auf Ibiza zu einem "rein privaten Treffen" in eine Finca gelockt worden. Das Gerede auf Ibiza sei "dumm und unverantwortlich" gewesen, gesteht er ein, "katastrophal und äußerst peinlich". Dass er der vermeintlichen reichen Russin mutmaßlich illegale Geschäfte zum gegenseitigen Nutzen angeboten habe, erklärt er als "typisch alkoholbedingtes Machogehabe". Sein Fazit: "Es war a bsoffene Gschicht."
Keine 24 Stunden nach den Veröffentlichungen sind die politischen Karrieren zu Ende
Er ziehe daraus die Konsequenz und habe Bundeskanzler Sebastian Kurz seinen Rücktritt als Vizekanzler angeboten und werde auch als Parteivorsitzender beziehungsweise Bundesparteiobmann zurücktreten.
Eine halbe Stunde später verschickt die FPÖ-Fraktion eine Pressemitteilung im Namen von Straches Parteifreund Johann Gudenus: "Hiermit gebe ich bekannt, dass ich meine Funktion als geschäftsführender Klubobmann sowie mein Nationalratsmandat zurücklegen werde. Ebenso trete ich hiermit von sämtlichen Funktionen in der Freiheitlichen Partei Österreichs zurück."
Keine 24 Stunden nach den ersten Veröffentlichungen über das Ibiza-Video sind die politischen Karrieren von Strache und Gudenus - zumindest vorerst - zu Ende. Auf dem Wiener Ballhausplatz tanzen Tausende zu dem Eurodance-Klassiker "Whoah! We're going to Ibiza". Sie skandieren: "Neu-wah-len! Neu-wah-len! Neu-wah-len!" Und die sollen sie bekommen.
Noch am selben Abend tritt Bundeskanzler Sebastian Kurz vor die Presse. Der Mann, der die Rechtspopulisten der FPÖ überhaupt erst in die Regierung geholt hat, der monatelang zugeschaut hat, wie FPÖ-Politiker Migranten mit Ratten verglichen haben, wie FPÖ-Politiker sich bei der rechtsextremen Identitären Bewegung sowie ausländerfeindlichen Burschenschaften engagiert haben, sagt: "Genug ist genug." So als sei ihm erst jetzt aufgefallen, mit wem er da eigentlich regiert hat. Schon jetzt sieht es so aus, als würde seine Strategie aufgehen, als würde Sebastian Kurz unbeschädigt aus der ganzen Affäre herauskommen.
Keine zwei Wochen später allerdings liegt dem Nationalrat in Wien ein Misstrauensantrag gegen den Bundeskanzler vor. Es ist der 186. Misstrauensantrag der österreichischen Geschichte. Die vorherigen 185 sind gescheitert, aber dieser kommt durch, und so ist Sebastian Kurz mit 32 Jahren - zumindest vorübergehend - der jüngste Altkanzler der österreichischen Geschichte.
Und Strache? Gegen den ermittelt die Staatsanwaltschaft, es gibt Durchsuchungen, aber der Kern der Vorwürfe aus Ibiza wird strafrechtlich für ihn wohl keine Folgen haben: Für die Zusage von Korruption kann nur der bestraft werden in Österreich, der im Moment der Zusage auch in der Lage ist, der anderen Seite diesen Vorteil zu gewähren. Das war Strache nicht auf Ibiza. Er war damals nur Oppositionsführer im Parlament. Eine "planwidrige" Gesetzeslücke, so die Staatsanwaltschaft, rettet ihn. Bei der vorgezogenen Neuwahl Ende September 2019 verliert die FPÖ dann allerdings fast zehn Prozentpunkte, ein Beben, und landet bei nur mehr 16,2 Prozent.
Wenig später ist Heinz-Christian Straches Zeit in der FPÖ wohl endgültig vorbei. Was weder seine früheren Verbindungen zur Neonazi-Szene noch die offenbare Korruptionsanfälligkeit zur Folge hatten, das löst am Ende eine parteiinterne Spesenaffäre aus: Strache und seine Frau Philippa sollen nicht korrekt abgerechnet haben, es geht offenbar um mindestens fünfstellige Beträge. Philippa Strache wird aus der Partei ausgeschlossen, die Mitgliedschaft ihres Mannes ruht, bis alle Vorwürfe geklärt sind. Eine Rückkehr des ehemaligen Vizekanzlers erscheint allerdings so gut wie ausgeschlossen.
Wenn es um Geld geht, hört offenbar auch bei der FPÖ die Partei-Freundschaft auf.