NS-Verbrechen:Und Oskar Gröning soll es jetzt büßen

Der ehemalige SS-Mann wurde wegen Beihilfe zu Mord in mindestens 300000 Fällen verurteilt. Nun soll er, 96-jährig, ins Gefängnis. Leser treten hier - mit Hinweis auf die hochrangigen Nazis, die niemals bestraft wurden - für Gnade ein.

Oskar Gröning

Verurteilt wegen Beihilfe zu Mord in mindestens 300.000 Fällen: Der Ex-SS-Mann Oskar Gröning.

(Foto: dpa)

"Seine letzten Jahre" vom 20./21. Januar und "Gnade den Gnadenlosen" vom 18. Januar:

Schuld und Scham

Die Lüneburger Justiz sollte sich schämen, den 96-jährigen Oskar Gröning erbarmungslos ins Gefängnis zu schicken. Zumal ausgerechnet er sich - anders als viele andere Nazi-Verbrecher - offenbar schon vor langer Zeit reuig zu den Verbrechen bekannt hat, an denen er beteiligt war. Kann es sein, dass Gröning mehr als 70 Jahre nach Ende des Krieges und des Holocaust dafür büßen soll, dass sich die deutsche Justiz jahrzehntelang eher nicht um die Verbrechen der Nazi-Zeit gekümmert hat? Diese Vorgehensweise wird die deutsche Justiz gewiss nicht von dieser Schuld entlasten.Ute Heidbrink, Berlin

Unsägliche Beteiligung

Gnade, die Heribert Prantl hier einfordert, könnte in diesem Fall auch aus dem Blickwinkel der langen, langen Gnadenfrist, die Oskar Gröning bisher genießen durfte, gesehen werden. Er konnte sein bisheriges langes Leben in Ruhe und Frieden genießen und wäre bei einem Freispruch für seine unsägliche Beteiligung an 300 000 Morden niemals zur Rechenschaft gezogen worden. Alter alleine sollte nicht vor Verantwortung schützen! Gnade für die 300 000 unschuldigen Opfer gab es jedenfalls nicht. Auch im Hinblick auf die bis heute belastende Nazi-Vergangenheit Deutschlands, mit der wir uns immer wieder konfrontiert sehen, wiegen diese Verbrechen schwer. Marianne Peycke, Bruchmühlbach

Beispiel Filbinger

Es ist erstaunlich, wie sowohl Heribert Prantl als auch Andrian Kreye im Falle des "Buchhalters von Auschwitz", Oskar Gröning, diesen für seine Untaten bestraft sehen und in Grönings Vita keine Entschuldigungsgründe für dessen Gnadenlosigkeit sehen können. "Er war schon vor der Machtergreifung Mitglied einer paramilitärischen Jugendgruppe, dann in der Hitlerjugend", schreibt Kreye. Gröning ist im Jahre 1922 geboren, war also 1932 - vor der Machtergreifung - zehn Jahre alt. Er hatte einen invaliden Vater und wuchs mutterlos auf. Sozialisiert wurde er wohl mehr oder weniger von der paramilitärischen Jugendgruppe und der Hitlerjugend, und es ist wohl nicht verwunderlich, dass diese sein Weltbild prägten, ein Weltbild, in dem Juden Schädlinge waren, die man zu vernichten hatte. Bei Kriegsende war Gröning 23 Jahre alt, gerade einmal erwachsen.

Ein gewisser Kurt Filbinger, knapp zehn Jahre älter und reifer als Gröning in diesem Alter von 23, der aus freien Stücken in die NSDAP eintrat, suchte dies hinterher damit zu bemänteln, dass er sonst nicht hätte Jura studieren können, und ließ nach Aufdeckung seiner schändlichen Todesurteile in den letzten Kriegsmonaten verlauten: Was damals Recht gewesen sei, könne nun nicht Unrecht sein. Der "furchtbare Jurist", wie ihn Rolf Hochhuth dankenswerterweise genannt hat, wurde Ministerpräsident und niemals vor Gericht gestellt. Er konnte sogar erfolgreich gegen Hochhuth prozessieren und ihm diese Äußerung untersagen lassen. Bis zum Ende seines Lebens fehlte Filbinger jede Einsicht in das Unrecht seines Handelns - von Reue ganz zu schweigen. Da kann man nur Goethe zitieren: Eines schickt sich nicht für alle, sehe jeder, wie er's treibe, sehe jeder, wo er bleibe, und wer steht, dass er nicht falle. Mit dem "nicht fallen" tut sich ein studierter Marinerichter naturgemäß leichter als ein Bankangestellter und Unterscharführer. Renate Seitz, München

Er ist einer von uns

Oskar Gröning ist vielleicht so ähnlich, wie mein Vater gewesen ist, der keinen so großen Mut hatte wie Sophie Scholl, wie Georg Elser, wie viele Widerstandskämpfer. Die Fähigkeit zu den Verbrechen, die er begangen hat, liegt in uns allen. Das Jahrhundertverbrechen, dessen Teilnehmer auch mein Vater war, den ich geliebt habe, wird eventuell nicht einzigartig bleiben, wenn wir alle meinen, uns über Gröning erheben zu können. Er ist einer von uns. Wenn man ihn jetzt einsperrt, dieses Vertrauen habe ich, wird die deutsche Strafjustiz ihn so menschlich behandeln, wie es einem 96-Jährigen zusteht. Ob er Gnade kriegt oder nicht, sollte kein generalpräventives Motiv durchsetzen, sondern nur die Betrachtung des einzelnen menschlichen Schicksals. Seine Opfer brauchen seine Einsperrung hoffentlich nicht. Nach dem Krieg, als in den ersten Jahren unverändert in Deutschland Antisemitismus herrschte, den Juden, die überlebt hatten, immer noch ertragen mussten, und später, als Globke, Heuss, Kiesinger, Lübke, Filbinger und wie sie alle heißen, in diesem Staat reüssierten, hätten die Opfer es gebraucht, dass unser Land sich hinter sie und nicht hinter die Täter und Mitläufer gestellt hätte. Gröning ist einfach zu alt, um einen Rechtsfrieden herzustellen, den unser Land den Opfern jahrzehntelang verweigerte. Achim Wellbrock, Dieburg

Gerechtigkeit ist hergestellt

Hier besteht die Chance, einem NS-Mittäter die Gnade zu erweisen, auf die die damaligen Opfer keine Chance hatten. Man kann nur hoffen, dass die niedersächsische Justizministerin einem 96-Jährigen diesen Akt der Humanität - und darauf kommt es alleine an - zuteil werden lässt. Gerechtigkeit ist meines Erachtens durch das Urteil bereits hergestellt. Gerhard Zittel, Hamburg

Es sträuben sich einem die Haare

Deutschlands Verbrechen geschahen im Geiste eines Rechts, dessen Schöpfer und Volltrecker dasjenige Grönings erst möglich machten, indem sie alle, die lediglich dagegen protestierten, auf dem Schafott enden ließen (Geschwister Scholl), und somit ungleich schuldiger als Gröning wurden, gleichwohl im Geiste jenes Rechts ("Was damals Recht war, kann heute nicht Unrecht sein", Zitat Filbinger) in bundesdeutschen Ministerien und Justiz höchste Stellen besetzten durften. Dem, der die Geschichte kennt, sträuben sich die Haare, wenn eine Rechtsprechung, welcher allein durch die Gnade einer britischen Fliegerbombe ein Pensionär Roland Freisler erspart blieb, mehr als sieben Jahrzehnte benötigte, um einen jetzt fast hundertjährigen Greis wegen Beihilfe zum Mord aus dem Rollstuhl auf die Anklagebank zu befördern, während sie in diesen Jahrzehnten ihre mindestens so schuldigen Väter oder "furchtbaren Juristen" bis auf wenige Ausnahmen in Ministerien und Gerichten solidarisch weiterbeschäftigte und eine Amnestie nach der anderen erfand! Der Sinneswandel, die Anklage wegen Beihilfe zum Mord zu einem Zeitpunkt zu erweitern, als es die Väter gerade nicht mehr gab, erscheint so wenig souverän, und die Weisheit des Volksmunds, nach welchem man die Kleinen hängt und die Großen laufen lässt, scheint das Recht auch im 21. Jahrhundert immer noch zu einfach zu prägen. Dr. Peter Arend, Olpe

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