Nordrhein-Westfalen:Sieger, Verlierer und viel Desinteresse

Die Wahl in NRW lässt viele Deutungen zu. So überlegt manch einer, warum so viele Menschen ihren Stimmzettel nicht ausgefüllt haben. Andere machen sich Gedanken über den Abwärtstrend der FDP oder die künftige Koalition.

Nordrhein-Westfalen: SZ-Zeichnung: Denis Metz

SZ-Zeichnung: Denis Metz

"Auch die CDU hat verloren", "Politisch gab's geilere Tage" vom 17. Mai, "In der Nähe der Todeszone" und "Wüst sieht klaren Regierungsauftrag" vom 16. Mai:

Schwäche des Kanzlers

Nach der desaströsen Wahlniederlage der SPD in Schleswig-Holstein der nächste Tiefschlag in unmittelbarer Folge, und das im Stammland Nordrhein-Westfalen, der Herzkammer der Sozialdemokratie. Eine historische, erdrutschartige Klatsche und ein Desaster für NRW. Hatte man nach der Bundestagswahl vor acht Monaten noch lauthals das sozialdemokratische Jahrzehnt ausgerufen, droht dieses jetzt im Eiltempo wieder zu Ende zu gehen. In der SPD-Parteizentrale in Berlin dürften die Alarmglocken schrillen. Bundeskanzler Olaf Scholz muss sich fragen lassen, welchen Anteil er an dieser desaströsen Schlappe hat. Denn er hat sich mit voller Kraft und Elan in den NRW-Wahlkampf eingebracht. Der Wahlausgang kann deshalb fast wie ein Misstrauensvotum gegen den Kanzler gedeutet werden. Er spiegelt die Enttäuschung der Wähler über den zögerlichen Kurs des Kanzlers in der Ukraine-Frage sowie die zurückhaltende Art seiner Kommunikation. Das Resultat der NRW-Wahl zeugt deshalb mehr von der Schwäche des Kanzlers als von der Stärke der Wahlgewinner CDU und Grüne.

Dietmar Helmers, Westerheim

Nicht wahrgenommen

Nur etwas mehr als die Hälfte der Wahlberechtigten gingen in Nordrhein-Westfalen (NRW) zur Wahl. Wahlsieger CDU verliert zigtausend Stimmen gegenüber der letzten Wahl, bleibt aber Champion. Doch die eigentlichen "Wahlsieger" sind die Nichtwähler mit um die 46 Prozent nicht abgegebenen Stimmen. Keinen auf der Liste (frei übersetzt) wollten sie wählen.

Kaum einer der Protagonisten wird hinsehen, denn dieses Teilergebnis gibt es im System nicht. Im öffentlichen Diskurs gilt es als Randerscheinung. Warum wählen die Leute nicht? Mag sein, dass Gleichgültigkeit im Spiel ist. Ich aber bin sicher, dass es daran liegt, dass Parteien, deren Politiker und ihre Politik weit entfernt vom Leben der Bürger sind. Oder kennen Sie jemanden, der dienstlich per Helikopter mit Sohn mal eben bis kurz vor das Urlaubsziel geflogen wird. Legal, aber, na ja.

Und noch eine Überzeugung habe ich gewonnen: Wenn jeder mit jedem kann, habe ich gar keine Wahl, oder sie ist schlicht beliebig. Schwarz, Rot, Grün, Gelb - es geht vor allem um Pfründen und Posten. Auch harte Differenzen werden zurechtkompromisst. So war es bei der Bundestagswahl. Die Parteien sind nur mäßig beeindruckt von den Enthaltungen. Sie machen einfach weiter. Und was, wenn die Wahlbeteiligung demnächst bei oder gar unter 50 Prozent liegen sollte? Ist eine Wahl dann noch repräsentativ? Oder braucht es ein Quorum, eine Mindestwahlbeteiligung, damit repräsentative Demokratie repräsentativ ist? Ich wäre dafür, denn dann müssen Parteien auf die Bürger zugehen, sie ernst nehmen, ihre Sprache, ihre Sorgen und ihr Leben kennenlernen. Und endlich kontroverse Positionen beziehen und beibehalten. Dann, so glaube ich, wächst das Vertrauen in Politik wieder. Und der Bürger wird nicht nur kurz vor und am Wahltag wahrgenommen, sondern ist Basis und Ziel des politischen Handelns.

Bertram Münzer, Gütersloh

Vergessene Rüttgers-Affäre

NRW, ist das dein Ernst? Ein Drittel der Wähler schenken einem Mann ihre Stimme, der durch aktives Handeln in der Rent-a-Rüttgers-Affäre bewiesen hat, dass er Politik für ganz selbstverständlich käuflich ansieht. Wahnsinn! Dies lässt nur zwei Schlüsse zu: Entweder wurde in den Medien die Rent-a-Rüttgers-Verstrickung von Hendrik Wüst sehr erfolgreich verheimlicht, was ein Schlaglicht auf die Medienlandschaft wirft, in der sieben große Verlegerfamilien in Nibelungentreue zur Union stehen und nur hin und wieder die öffentlich-rechtlichen Medien für Pluralität sorgen. Oder den Bürgern ist es inzwischen egal, weil sie davon ausgehen, dass Politiker ohnehin korrupt sind und nur diejenigen Einfluss auf die Politik nehmen können, die genug Geld haben, um sich ihre Wünsche durch Parteispenden oder Ähnliches zu erkaufen.

Beides ist eine ernsthafte Gefahr für unsere Demokratie. Es lässt echte Demokraten schaudern und bang in die Zukunft blicken.

Stefan Bluemer, Essen

Persönlichkeit ist entscheidend

Mich wundert, dass alle immer am Bundeskanzler herumnörgeln. Wieso sieht eigentlich keiner, dass Thomas Kutschaty neben Hendrik Wüst blass aussieht? Wir leben im medialen Zeitalter, in dem Bilder mehr bewirken als Worte und Programme - leider. Aber ein Sunnyboy wie Wüst, groß, freundlich, gut aussehend und sehr gut in der Selbstinszenierung, hat doch schon rein äußerlich mehr Chancen als der kleinere, bärtige Kutschaty. Auch der Kieler Ministerpräsident Daniel Günther sieht gut aus, kommuniziert gut und konnte auf eine vernünftige Politik zurückblicken. Armin Laschet hätte wohl kein Ergebnis wie Wüst zustande gebracht. Dass die Persönlichkeit von Politikern und Politikerinnen auf dem Prüfstand steht, ist bei den Grünen gut zu beobachten. Sie haben es geschafft, endlich Frauen in die vorderste Riege zu katapultieren, und nicht nur eine...

Prof. Dr. Antonie Hornung, Zollikon/Schweiz

FDP im Abwärtstrend

Das Wort "Todeszone" im Titel lässt Erinnerungen an den FDP-Vorsitzenden Jürgen Möllemann aufkommen, der bewusst oder unbewusst bei einem Fallschirmsprung nach Aufhebung seiner Immunität ums Leben kam. Zu politischen Höhenflügen kam es in NRW weder durch die Arbeit der FDP noch durch den stellvertretenden Ministerpräsidenten Joachim Stamp oder Kultusministerin Yvonne Gebauer, die sich unter der NRW-CDU durch ein katastrophales Schulmanagement in der Corona-Phase oder ständige Querschüsse zu den Corona-Regeln hervortaten. Man muss sich eher wundern, dass es für die FDP überhaupt noch für einen Einzug in den Landtag gereicht hat.

Wer nämlich einmal auf der Straße mit dem "Fußvolk" der Partei über das Thema Tempolimit diskutiert hat und sich als Argumentation gegen ein solches anhören durfte, dass es auf der Isle of Man auch keines geben würde - und warum etwas verbieten, was auf den Autobahnen eigentlich fahrtechnisch meistens sowieso nicht möglich ist -, der wundert sich nicht, dass ein derart begrenzter Horizont nicht reicht, um Leute zur Stimmenabgabe für diese Partei zu motivieren. Da können auch Christian Lindner und seine Parteifreunde Wissing, Buschmann und Kubicki mit ihrem Geschwätz über vermeintliche Freiheiten nicht mehr viel dazu tun, um die Karre gegen die Wand zu fahren. Diese Partei bleibt ein hoffentlich kurzfristiges, da nutzloses Hirngespinst mit einem selbstverliebten Parteichef.

Oliver Schulze, Detmold

Liberal bedeutete was anderes

Die Abkehr der Alten von der FDP liegt möglicherweise in der Vergangenheit. Viele werden sich wahrscheinlich noch erinnern, dass "liberal" damals nicht für hemmungslose Investoren-Geldgier, Freiheit zum exzessiven Gewinnemachen und Überwachungsstaat stand. Sondern für Verteidigung der Grundrechte, Vertretung der Interessen kleiner Selbständiger und Gewerbetreibender, ein paar moralische Grundsätze und nicht nur einen smarten guten Redner an der Spitze. Vielleicht sind die alten Herrschaften nachtragend?

Edeltraud Gebert, Gröbenzell

Schwarz-Grün

Eine Liebesheirat wird das nicht. Ein Zweckbündnis schon eher, um mitzugestalten. Mona Neubaur, von Beruf Diplompädagogin, wird hoffentlich den sich im Parlament tummelnden Juristen die desolate Realität der Kinder vor Augen halten: überlastete, unterbezahlte Erzieher, marode Schulen, ungleich bezahlte Lehrer - je kleiner die Kinder, desto kleiner ihr Gehalt. Mitsprache der 16-Jährigen in kommunalen Gremien - also: Wahlalter senken! Die Hoffnung, dass den Windeln wechselnden, Kinderwagen schiebenden Ministerpräsidenten und Juristen Wüst die eigene Erfahrung dazu bringt, dass mal den Kleinen was Großes zugutekommt, bleibt. Sicher will er sein Kind nicht in der Staatskanzlei bespaßen und versorgen, weil er keinen Kitaplatz findet.

Harald Dupont, Ettringen

Unerklärliches Desinteresse

Absolut erschreckend, die geringe Wahlbeteiligung in NRW. Fast die Hälfte der Bürger kamen ihrer Bürgerpflicht nicht nach. Und das im Bundesland mit den meisten Einwohnern und relativ hoher Arbeitslosenquote. Gerade in dieser Zeit stehen Klimaschutz, Arbeitsplätze und Energie im Vordergrund. So oft wird Demokratie und Mitbestimmung gefordert. Ein klarer Widerspruch zum Desinteresse an einer Wahl. Unerklärlich!

Stefan Herb, Roding

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