Raketenstationierung:Eine neue Rüstungsdebatte

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Matrosen entladen eine Tomahawk-Rakete: Erstmals seit dem Kalten Krieg wollen die USA wieder Marschflugkörper in Deutschland stationieren, die bis nach Russland reichen. (Foto: Petty Off 2. Cl Zachary Grooman/dpa)

Die USA wollen ab 2026 weitreichende Raketen in Deutschland stationieren – was bei vielen SZ-Lesern Erinnerungen an die Zeit des Nato-Doppelbeschlusses weckt. Eine richtige Entscheidung? Und was ist diesmal anders als damals?

„Raketen für den Frieden“ vom 27. Juli, „Widerstand gegen Scholz’ Raketenplan wächst“ und Kommentar „Jede Diskussion wert“ vom 30. Juli:

Sicherheit outgesourct

Mit der Stationierung der US-Langstreckenraketen und Marschflugkörper verlagern wir wieder einmal unsere ureigene Aufgabe der Landesverteidigung. Mit der Stationierung von Angriffs- und Erstschlagswaffen in Deutschland unter amerikanischer Hand tragen wir nicht zur Erhöhung der Sicherheit in Deutschland und Europa bei. Leider ist der Traum von der Friedensdividende erst mal ausgeträumt. Was wir brauchen, ist deshalb die Fähigkeit, uns selbst gegen einen Aggressor zu verteidigen, ohne die Fähigkeit, selbst als Aggressor auftreten zu können. Dazu braucht es, wie der Krieg in der Ukraine zeigt, insbesondere militärische Aufklärung, permanente flächendeckende Luftverteidigung, um besonders die Infrastruktur zu schützen, und viel Munitionsvorrat aller Kaliberklassen schon zu Friedenszeiten. Erst durch den Verzicht auf Erstschlagswaffen und atomare Trägersysteme wird nicht nur Deutschland sicherer.

Die alte römische Weisheit „Willst du den Frieden, so bereite den Krieg vor“ ist nach wie vor richtig. Diese Vorbereitung hat, speziell in einer Demokratie, allerdings zwei Nachteile. Sie kostet viel Geld, das man lieber für andere auch wichtige Dinge ausgeben würde. Und zum anderen kann es, wie schon mal in Deutschland und nicht nur dort geschehen, von nationalen Führern missbraucht werden. Aber ohne Frieden kein Sozialstaat, weil wie schon der Kanzler richtig bemerkte: Ohne Sicherheit ist alles nichts.

Hans-Kurt Henning, München

Überhaupt nicht überraschend

In Ihren Berichten und Kommentaren gehen Sie auf die bereits begonnene Aufstellung der 2nd Multi-Domain Taskforce (MDTF) seitens der US Army in Deutschland ein. Mehrmals wird darin beschrieben, dass dies während des Nato-Gipfels plötzlich aufgetaucht sei, für die Öffentlichkeit überraschend käme, sich der SPD-Fraktionsvorsitzende überrumpelt fühle, der russische Präsident jetzt spiegelgerecht reagiere und auch die Opposition eine größere Debatte wünsche. Die Entscheidung der USA, eine MDTF in Deutschland zu stationieren, ist schon am 13. April 2021 öffentlich bekanntgegeben worden. Und der Aufstellungsstab ist bereits seit 16. September 2021 in Wiesbaden aktiv. 

Der konzeptionelle Grundgedanken dieses Großverbands war bereits zu Beginn des gleichen Jahres umrissen worden. Dabei kamen auch dessen Bewaffnung mit Systemen mittlerer und großer Reichweiten zur Sprache. Dem Fachpublikum war zu dem Zeitpunkt bereits klar, dass es sich voraussichtlich auch um Tomahawk-Marschflugkörper nebst noch zu entwickelnden Hyperschall-Lenkflugkörpern von Reichweiten weit oberhalb von 2000 Kilometern handeln werde.

Dies begründet sich in den zwei Aufgaben der MDTF: Zum einen eine konventionelle abschreckende Antwort zu geben auf die vorherige einseitige russische Stationierung der nuklearfähigen Iskander-Mittelstreckenraketen zum Beispiel im Raum Kaliningrad. Diese neue russische Bedrohung war auch wesentlicher Anlass zur Kündigung des INF-Vertrags, der zuvor mehrere Jahrzehnte lang solche Waffensysteme aus Europa verbannt hatte. Spätestens seitdem ist Deutschland wieder offensichtliche Zielscheibe Russlands.

Zum anderen soll mit der MDTF gewährleistet werden, dass die USA und ihre Verbündeten nötigenfalls das sogenannte Anti-Access/Area Denial (A2/AD) Russlands in Räumen wie der Ostsee oder im Schwarzen Meer unterbinden könnten. Dass dies Ähnlichkeiten zum Nato-Doppelbeschluss aufweist, liegt inhaltlich und politisch auf der Hand. Heute aber den damaligen Nato-Doppelbeschluss als reine politische Bürde zu sehen, bewusste strategische Entscheidungen einseitig zu kritisieren und dabei die eigene Angst vor weiterer Eskalation durch Russland zu schüren, zeugt mehr von reflexhafter Instinktpolitik als von rationaler Analyse oder vorhandener Sicherheitsstrategie. Da eine parlamentarische Debatte demokratisches Grundrecht ist, kann dies selbstverständlich eingefordert werden. Nur hätte dieser Diskurs besser im Jahr 2014 nach der russischen Annexion der Krim, 2017 nach der Stationierung der damals verbotenen Iskander-Raketen in Kaliningrad, zu Beginn 2021 im Zuge der entsprechenden Entscheidungsfindung und Kommunikation der USA oder spätestens 2022 mit dem Gesamtangriff auf die Ukraine erfolgen sollen.

Dr. Pascal van Overloop, Höhenkirchen-Siegertsbrunn 

Wo ist die Deeskalationsperspektive?

Die „gemeinsame Erklärung der Vereinigten Staaten von Amerika und der Bundesrepublik Deutschland zur Stationierung weitreichender Waffensysteme in Deutschland“ vom 10. Juli 2024 erfolgte offenbar auf geheime Regierungskonsultationen zwischen Washington und Berlin.

Diese bilaterale Entscheidung unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht vom Nachrüstungsbeschluss 1979. Damals gab es innerhalb der Nato eine breite Diskussion, und Bundeskanzler Schmidt hat die deutschen Interessen auch gegenüber den USA hartnäckig vertreten. Zum einen, dass die Pershings nicht nur in Deutschland, sondern auch in weiteren europäischen Ländern stationiert wurden – das Risiko wurde also geteilt. Zum anderen wurde Präsident Carter der sogenannte Doppelbeschluss abgerungen, wonach die Stationierung der Mittelstreckenraketen konditioniert und abhängig gemacht wurde vom Abzug der sowjetischen SS-20-Raketen. 

Im Gegensatz zum damaligen „Doppelbeschluss“ enthält die jetzige bilaterale Vereinbarung keine Deeskalationsperspektive, sondern entfacht einen neuen Rüstungswettlauf. Im Unterschied zur damaligen Stationierung der Pershings sind die geplanten Hyperschall-Raketen weiter reichend, zielgenauer, zerstörerischer und kaum abzuwehren, vor allem sind sie um ein Mehrfaches schneller. Die Gefahr, dass solche bedrohlichen Waffen wegen der kurzen Vorwarnzeiten durch Russland präventiv ausgeschaltet werden könnten, ist also um ein Vielfaches höher. Und woher sollte Putin wissen, dass diese neu installierten Waffen nicht nuklear bestückt sind? 

Ist es nicht eher so, dass durch die Stationierung Deutschland deshalb „unweigerlich ins Zentrum“ möglicher Attacken Putins rückt, gerade weil diese Raketen ausschließlich in Deutschland stationiert werden? Zum ersten Mal seit dem INF-Vertrag über den Abzug und die Vernichtung von Raketen von kürzerer und mittlerer Reichweite im Jahre 1988 sollen mit landgestützten Systemen von strategischer Reichweite wieder Ziele in Russland bedroht werden. Es schadet der demokratischen Kultur in unserem Lande, dass eine derart weitreichende Entscheidung im Vorfeld weder im Parlament noch in der Öffentlichkeit diskutiert worden ist. 

Dr. Wolfgang Lieb, Köln

Erschreckend anders als damals

Der Hinweis von Rolf Mützenich auf die Gefahr einer unbeabsichtigten Eskalation durch die geplante Aufstellung neuer US-Raketen löst bei Ihnen mal wieder reflexhaft eine Polemik gegen ihn als Person aus. Tatsächlich ist eine ernsthafte Debatte nötig: Nicht zuletzt die IT-Panne kürzlich hat gezeigt, welche weltweiten Auswirkungen kleinste Fehler haben können.

Zugleich ist der Hinweis auf den Nato-Doppelbeschluss erschreckend aktuell: Damals ein „Nato-Doppelbeschluss“, heute eine „Erklärung am Rande“ des Nato-Gipfels, eine „Einzelerklärung“ zur Platzierung von Waffen, die mobil einsetzbar nur im dicht bewohnten Deutschland stationiert werden sollen, ohne ein gleichzeitiges Abrüstungsangebot. Überraschend ist die Erklärung – anders als seinerzeit – vorbei am Parlament und anscheinend auch vorbei an den Regierungsfraktionen in die Welt gesetzt worden. Mit dem ablenkenden Verweis auf Putin ist die notwendige Debatte nicht zu unterdrücken.

Anke Brunn, Köln

Ach, Friedensbewegte

An Helmut Schmidts Zeiten erinnere ich mich gut. Die sogenannte Friedensbewegung versetzte mich in Angst und Schrecken. Es lag auf der Hand, dass sie den Interessen des Kremls diente. Das heißt nicht, dass alle „Friedensbewegten“ sich dessen bewusst waren; vermutlich waren es die meisten nicht. Der Ruf „Frieden schaffen ohne Waffen“ liegt schon wieder in der Luft. Und natürlich gibt es immer die Möglichkeit, sofort Frieden zu schaffen: Man überlasse dem jeweiligen Aggressor in aller Freundlichkeit, was immer er haben will. Krieg gibt es ja nur, wenn man ihm das Gewünschte vorenthält. Schuld am Krieg ist der, der den anderen zwingt, sich mit Gewalt zu nehmen, was man ihm doch friedlich geben könnte.

Wer wirklich Frieden will, braucht keine Waffen! Darum bitte keine Marschflugkörper Typ Tomahawk und ähnliches Teufelszeug auf deutschem Boden! Und keine deutschen Soldaten in Litauen! Ich wette meinen Kopf: Dergleichen werden wir in absehbarer Zeit öfter hören. Möge die SZ nicht müde werden, dagegenzuhalten.

 Thelma v. Freymann, Diekholzen 

Naive Aufrüstung

Wohin führt die Haltung unserer Außenministerin Annalena Baerbock, wenn sie die Meinung äußert, auf verstärkte Abschreckung und zusätzliche Abstandswaffen zu verzichten, sei „naiv“? Naiv erscheint mir eher, wenn immer weitere Aufrüstungsschritte erfolgen und die Risiken ignoriert werden. Auch die Begründung, dass mit diesem Aufrüstungsschritt der Nato nur eine „Fähigkeitslücke“ geschlossen werde, überzeugt nicht, denn das wird der hochkomplexen Situation überhaupt nicht gerecht. Derlei zunehmende Kriegslogik führt immer mehr in die Sackgasse.

Dr. Christoph Dembowski, Rotenburg

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