Süddeutsche Zeitung

Muezzin-Ruf:Drei Minuten Religionsfreiheit

Lesezeit: 4 min

In Köln sollen Muezzins freitags zwischen 12 und 15 Uhr vom Minarett den Gebetsruf ausrufen dürfen. Bei SZ-Leserinnen und -Lesern trifft die Entscheidung und die SZ-Kommentierung auf gemischte Gefühle.

Zu "Gebetsruf in Köln: Warum Bedenken angebracht sind" vom 21. Oktober und zu "Muezzin-Ruf in Köln erlaubt" vom 12. Oktober:

Religion in Geiselhaft

Es ist verstörend, wie Tomas Avenarius unterschiedliche Dinge auf äußerst problematische Weise miteinander vermischt. Einerseits wird der islamische Gebetsruf mit dem, was Avenarius als den "politischen Islam" des türkischen Staatschefs bezeichnet, vermengt. Beinahe noch erschreckender ist die Gleichsetzung der Rückumwandlung der Hagia Sophia in eine Moschee mit der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan.

Avenarius verunglimpft in dem Artikel ferner den Versuch, Gleichberechtigung zwischen den Religionen herzustellen und Toleranz zu zeigen als "Kulturromantizismus". Der bessere Weg scheint demnach zu sein, bestimmte Religionen und deren Anhängerschaft in Geiselhaft zu nehmen und nur so viel Toleranz zu zeigen, wie unbedingt nötig. Dass eine solche Haltung rein gar nichts verbessert und sogar hilft, radikale Tendenzen zu fördern, sollte jedem und jeder klar sein.

Der Gebetsruf an sich hat zunächst nichts mit dem türkischen Staat und dem von Avenarius postulierten Aufruf an die Gläubigen zum Dschihad zu tun. Genauso wenig übrigens, wie Kirchenglocken als Aufruf zum Kreuzzug gen Osten zu verstehen sind. Wenn überhaupt, so signalisiert die Erlaubnis einiger deutscher Städte, den Gebetsruf zuzulassen, den hier Lebenden, dass sie nicht Menschen zweiter Klasse sind, sondern dieselben Rechte und Pflichten wie die christlichen und atheistischen Deutschen haben. Nicht mehr und nicht weniger.

Dr. Armin Bergmeier Wien/Österreich

Eine gefährliche Vermischung

Nachdem Tomas Avenarius dargelegt hat, weshalb die neue Kölner Regelung ein Schritt in Richtung Gleichberechtigung sei, geht er dazu über, "berechtigte Vorbehalte" zu skizzieren. Die Argumentation ist erstaunlich. Es wird der Bogen geschlagen von der nach Artikel vier unseres Grundgesetzes unbestreitbar gebotenen Erlaubnis, zum Freitagsgebet aufzurufen, hin zum politischen Islam à la Erdoğan und - man mag es kaum fassen - zur Machtübernahme der Taliban. Die Verknüpfung nimmt der Autor vor, indem er auf den Träger vieler deutscher Moscheen - den Verband Ditib - rekurriert, der vom türkischen Staat, genauer der Religionsbehörde Diyanet, kontrolliert werde. Und der Diyanet-Chef habe sich ja schließlich mit dem Taliban-Außenminister getroffen.

Diese bereits für sich genommen eher brüchige Verbindungslinie, die noch dazu nur einen Teil der Moscheegemeinden betrifft, garniert der Autor sodann mit dem Hinweis, der Gebetsruf diene Islamisten als tägliche Bestätigung des politischen Auftrags. Zuvor wird aber pflichtbewusst konzediert, dass der Islamismus mit dem Glauben und Denken der meisten Muslime in Deutschland wenig zu tun haben mag. Und trotzdem scheint sich der Autor des Eindrucks nicht erwehren zu können, dass es irgendwie doch nicht förderlich für den gesellschaftlichen Zusammenhalt wäre, wenn jetzt diese Muslime einmal in der Woche zwischen 12 und 15 Uhr von ihrem Minarett für ungefähr drei Minuten ihr Glaubensbekenntnis rufen. Im Gegenteil, dies spiele Hasspredigern der AfD in die Hände.

Die Nachricht über die Kölner Neuerung habe ich eher beiläufig zur Kenntnis genommen. Mir war natürlich klar, dass sich kurz darauf in einschlägigen Foren und auch Medien die üblichen Warnungen vor dem Untergang des Abendlandes finden dürften. Umso erstaunter war ich daher, diesen Kommentar in der Süddeutschen Zeitung zu lesen. Der Kommentar ist besonders problematisch, weil hier in einem seriösen Medium insinuiert wird, dass den Muslimen in Deutschland ihr Recht auf freie Religionsausübung lieber doch nicht voll gewährt werden sollte, weil der ein oder andere Islamist dies möglicherweise als Bestätigung seiner extremen Auffassung sehen könnte. Und das ist noch die mildere Interpretationsvariante.

Man könnte in diesen Kommentar auch hineinlesen, dass man den Muslimen in Deutschland letztlich doch nicht ganz vertrauen könne, ihre Religion mit hinreichender Distanz zu Erdoğan und Taliban auszuüben, und man ihnen daher nicht noch mehr Raum in der öffentlichen Wahrnehmung einräumen sollte, indem man sie - und sei es nur drei Minuten Freitagmittag - in Erscheinung treten lässt. Was dem Autor stattdessen vorschwebt, wird nicht ausbuchstabiert. Aber die Konsequenz des letzten Absatzes des Kommentars ist klar: Die Kölner Oberbürgermeisterin Reker hätte besser auf die Neuregelung verzichtet, da diese das Miteinander gefährde. Mit anderen Worten: Tolerantes Miteinander funktioniert nur, solange die anderen - hier die Muslime - nicht allzu sehr in Erscheinung treten. Dass diese Denkweise höchst problematisch ist, bedarf keiner näheren Erläuterung.

Mir liegt nichts ferner als eine Nähe zum Erdoğan-Regime oder Schlimmeren. Ich interessiere mich nicht einmal für die genaue Ausgestaltung muslimischer Freitagsgebete. Was mich jedoch besorgt, ist die Vermischung gänzlich unterschiedlicher Sachverhalte, die den Eindruck erweckt, die Kölner Entscheidung bestärke mittelbar Islamisten. Das kann nicht Ihr Ernst sein.

Dr. Aziz Epik, Berlin

Alle Auflagen eingehalten?

Die Moschee in Köln wurde unter anderem mit deutschen Steuergeldern gebaut. Meines Wissens nach unter der Auflage, dass es eine Frauenbeauftragte und Deutschkurse gibt. Kaum war der Bau fertig, wurden beide Stellen wieder abgeschafft. Konsequenzen? Fehlanzeige!

Zur Ausübung ihres Glaubens brauchen Muslime nicht den Ruf des Muezzins, und die Religionsfreiheit wird in keinerlei Weise eingeschränkt, wenn der Ruf nicht ertönt. Jahrzehntelang war das offensichtlich auch kein Problem. Eigentlich möchte ich gar nicht auf die Situation christlicher Gemeinden in islamischen Ländern eingehen, aber offensichtlich muss man das doch tun.

Und dann der Ruf: "Kommt zum Frieden". Eine Glaubensgemeinschaft, die außer in Sunniten und Schiiten in viele andere Richtungen tief gespalten ist. Wofür haben wir, auch wir Männer, uns seit den 60er-Jahren für die Gleichberechtigung von Mann und Frau engagiert, wenn ich jetzt bei uns junge türkische Männer sehe, deren Frauen mit Kopftuch drei Schritte hinter ihnen gehen. Manchmal frage ich mich, haben eigentlich unsere Politiker und unsere Journalisten wirklich verstanden, worum es geht, vor allem weil aufgeklärte, moderne Muslime wie Bassam Tibi und viele andere nicht mehr zu Wort kommen.

Burkhard Colditz, Sindelsdorf

Extremistische Christen

Ungeachtet des in dem Kommentar nur dürftig erläuterten Zusammenhangs zwischen muslimischen Gebetsrufen in Köln und Islamisten in Afghanistan: Eine politisierte Religion, die von Extremisten missbraucht wird, wie eine weltliche Ideologie, gibt es allerdings im erweiterten "christlichen Abendland". Es sind die christlichen Interessenverbände Nordamerikas, die dort keine der von ihnen immerhin wohlwollend zugestandenen Minderheitenrechte brauchen, weil sie an entscheidenden Stellen der Macht sitzen, wie dem US Supreme Court. Das ist in der Tat bedrohlich. Am Glockengeläut derselben Religion stört sich der Autor aber nicht. Statt zu formulieren, was genau vom Adhan konkret bedroht wird, wird aus Krummsäbeln und Taliban ein beängstigendes Bild komponiert.

Arno Stallmann, Bochum

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5451456
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 29.10.2021
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.