Süddeutsche Zeitung

Zweite S-Bahn-Stammstrecke München:Fürs große Maulwurf-Credo wird das zu teuer

Augen zu und durch? Noch könnte das chaotisch entgleisende Großprojekt gestoppt und durch andere, günstigere und besser Lösungen ersetzt werden, glauben Leser.

Leitartikel "Der nächste BER" vom 19. Juli:

Südring statt Tunnelkatastrophe

Wie schon im Frühjahr 2017 befürchtet, ist nun die Tunnelkatastrophe eingetreten, und zwar doppelt: bei den Kosten und der Bauzeit. Genau dieses unterirdische Resultat sturer Verkehrsplanung hatte die WeAct-Petition für die vernünftige oberirdische Alternative (über Poccistraße, Braunauer Eisenbahnbrücke und Kolumbusplatz) vorausgesagt, genauso wie die "Bürgerinitiative Haidhausen S-Bahn-Ausbau". Hellseherische Fähigkeiten waren dafür nicht notwendig, denn der sogenannte S-Bahn-Südring über lediglich zu ertüchtigende Gleisanlagen hätte nur ein Sechstel der Tunnelkosten erfordert. Es ist eher wie bei "Stuttgart 21": "Verbocken, verschleiern, verschieben", so lange, bis der zielorientierte Bahnkunde die Geduld verliert; ein Umkehren erscheint dem mit Absicht im Unklaren Gelassenen zu teuer. Dann hilft angeblich nur noch das Maulwurf-Credo: Augen zu und durch, wider besseres Wissen auch der Tunnelökonomen.

Die Kultur des Eingestehens von Fehlern bricht sich gerade in der Ost- und Energiepolitik vorsichtig Bahn. Sollte das einen Hoffnungsschimmer auf die Verkehrspolitik in München werfen können?

Dr. Dietrich W. Schmidt, Stuttgart

Bahn und Politiker überfordert

Das Dilemma bei Großprojekten wie dem BER und nun der zweiten Münchner S-Bahn-Stammstrecke ist schon richtig erkannt: Politiker sind überfordert, schlecht beraten, und agieren zudem meist parteitaktisch und weniger das Gemeinwohl im Auge habend. Auch dass die Deutsche Bahn AG im Management versagte, mit einem bis April agierenden Infrastruktur-Vorstand Pofalla, der von Bahnbau und Bahnbetrieb keine Ahnung hatte und hat und die Fachleute eher vergraulte denn befragte, ist bekannt.

Was der Kommentator (der MVV und MVG nicht auseinanderhalten kann) leider völlig außer Acht gelassen hat: Dass der Bau der zweiten Stammstrecke ohnehin umstritten war und noch mehr ist: Ein Ringbahn-System mit Ausbau bestehender Strecken wäre kostengünstiger und schneller - und immer noch möglich.

Wenn Daglfinger und Truderinger Kurve stehen, ist der Südring vom Güterverkehr befreit: Das wäre der erste Schritt zu einem richtigen "Netz" für die S-Bahn. Einfach nur ein teurer Parallelstrang, und der nicht vor 2037 und dann sicher zu noch höheren Kosten als 7,2 Milliarden Euro: Diesem Unsinn müsste man nun beherzt ein Ende machen. Ich plädiere für den Stopp dieser Baumaßnahmen, zumal es für den östlichen Ast auch heute noch gar kein Baurecht gibt. Da wäre politischer Mut gefragt - ob es den gibt ?!

Manfred Knappe, München

Die Murks-Republik

Stuttgart 21, BER und jetzt der Ausbau des S-Bahn-Netzes in München stehen aktuell für vermurkste Großprojekte in Deutschland. Wenn man dann grundlegende Projekte wie die Digitalisierung, den Ausbau von 5G oder die Sanierung der maroden Infrastruktur hinzunimmt, wird Versagen auf breiter Linie evident. Es drängt sich die Frage auf, was Gesellschaft, Wirtschaft und Politik in diesem Land überhaupt noch auf die Reihe bringen.

Doch der Reihe nach. Die deutsche Gesellschaft ist in den Jahren des Überflusses verweichlicht, gefangen in einem Anspruchsdenken, in dem Einschränkung und Verzicht ebenso wenig Platz haben wie die Verantwortung für das Gemeinwohl. Die heutige Gesellschaft setzt sich überwiegend aus Ich-AGs zusammen, bei denen das Recht auf Selbstverwirklichung ohne jede Rücksichtnahme im Vordergrund steht. Während die Ukraine seit Monaten um ihre Existenz kämpft, beherrschten hierzulande Schlagzeilen die Medien, die den möglichen Ausfall von Urlaubsreisen zum Inhalt hatten, wo schon Teenager vehement ihr Recht auf Urlaub und Party einforderten. Des Weiteren hat die deutsche Wirtschaft in den letzten Jahrzehnten wichtige Technologien in ihrer selbstzufriedenen Arroganz einfach verpennt, wenn man nur an die E-Mobilität denkt. Darüber hinaus wurden ganze Industriezweige an China verscherbelt, siehe Solar-Technologie, oder, wie große Teile der Pharma-Industrie, nach Indien abgegeben.

Heute beklagen Firmen wie BASF heuchlerisch die Abhängigkeit von russischem Gas, eine Abhängigkeit, die sie selbst in kurzsichtiger Gier nach billiger Energie vehement befördert haben. Die deutsche Wirtschaft ist zu einem beträchtlichen Teil nicht mehr autark, hat sie sich doch, unterstützt von der Politik, um des schnellen Profits willen in verhängnisvolle Abhängigkeiten begeben, statt sich in kluger Voraussicht eine gewisse Selbständigkeit zu bewahren. Diese Rechnung wird noch präsentiert werden.

Zu guter Letzt zur Politik: Deutsche Politiker sind Weltspitze im Ankündigen von Projekten und im Ausbau und Erfinden immer neuer Verordnungen, Vorgaben und Verfahren. Dazu kommt der verhängnisvolle Hang - man will ja schließlich wiedergewählt werden - zu einer Politik, die dem Bürger nichts zumuten will. Stattdessen werden von jeder Regierung Geschenke an das Wahlvolk verteilt und unbequeme Reformen auf die lange Bank geschoben. So drücken sich Regierungen seit Jahrzehnten um eine große Steuerreform, von einer Rentenreform gar nicht zu reden. Die Rente wird sehenden Auges an die Wand gefahren. Der von Politikern vor jeder Wahl traditionell angekündigte Bürokratieabbau ist mittlerweile ein Running Gag. 2021 sollte Deutschland flächendeckend das schnelle 5G zur Verfügung haben und wollte zur Bildungsrepublik werden. Pustekuchen. Währenddessen wird in deutschen Gesundheitsämtern immer noch munter gefaxt, die Datenerfassung in der Corona-Pandemie war nicht möglich und die Beschaffung eines Rucksacks für die Bundeswehr ist nach acht Jahren noch nicht durch. Peinlich.

Nichtsdestotrotz sind wir laut Politik auf allen Problemfeldern auf dem Weg an die Weltspitze, in Wahrheit aber im Begriff, ein Dritte-Welt-Land zu werden, das, siehe Berlin, nicht einmal mehr Wahlen korrekt abhalten kann. Wie sagte doch Heinrich Heine: "Denk ich an Deutschland in der Nacht, dann bin ich um den Schlaf gebracht." Das Zitat kann dank der romantischen Russlandfolklore der deutschen Politik im kommenden Winter bitterkalte Wahrheit werden, wenn mancher schlaflos in seinem eiskalten Bett liegt. Der Winter war schon immer ein Verbündeter Russlands.

Josef Geier, Eging am See

Milliarden für schlechteren Takt

7 200 000 000 Euro, wenn's denn reicht, für einen 15-Minuten Takt statt bisher eines Zehn-Minuten Takts! Als Haarer sind wir von der Verschlechterung unmittelbar betroffen. So gesehen bleibt nur zu hoffen, dass sich die Fertigstellung noch weiter verzögert oder nie realisiert wird. Lieber ein Ende mit Schrecken, als ein Schrecken ohne Ende. Verzweifeln lässt mich lediglich das Wissen über das verlorene Geld, mit dem so viele effizientere Verkehrsprojekte hätten realisiert werden können. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit denke ich da an die Verlängerung der Straßenbahn nach Haar, die Tram durch den Englischen Garten, Tram-Westtangente Romanplatz/Aidenbachstraße, Verlängerung der U-Bahn/Straßenbahn bis Freiham (auch anstelle des irrwitzigen Ausbaus der A96 ab Germering), Ausbau S7, und so weiter. Überregional denke ich auch an den Ausbau der Bahnstrecke in Richtung Brenner.

Marie Viennet und Hans Rohling, Haar

Söder heuchelt

Der jetzige Verkehrsminister Volker Wissing ist seit circa einem halben Jahr im Amt, und diese massiven Kostenerhöhungen und zeitlichen Verzögerungen haben sich ja nicht erst in den letzten sechs Monaten ergeben. Vor circa fünf Jahren erfolgte der Spatenstich zum Projekt zweiter S-Bahn-Tunnel, und wie bei jedem Großprojekt gibt es doch ein Controlling, hier mit Beteiligung der Bahn, der zuständigen Ministerien und des Freistaates Bayern sowie der ausführenden Bauunternehmen. Sehr ärgerlich ist deshalb die heuchlerische und reflexartige Schuldzuweisung Söders Richtung Berlin, denn schließlich hat die CSU den für die Bahn zuständigen Verkehrsminister die letzten zwölf Jahre gestellt. Die für die Nicht-Kommunikation, ja Verheimlichung zuständigen Personen und Stellen - das heißt: Ross und Reiter - zu nennen, wäre eine dankbare journalistische Aufgabe.

Dietmar A. Angerer, München

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