Süddeutsche Zeitung

Missbrauchsskandale:Der lange Weg zur Aufklärung

In bayerischen Kinderheimen wurden ab den 1960er-Jahren offenbar zahlreiche Kinder misshandelt. Schuld daran trägt auch die Stadt München. Die Aufarbeitung beginnt Jahrzehnte später - unter anderem dank Recherchen der SZ.

Von Bernd Kastner und Rainer Stadler

Martha Koch (Name geändert) hat mehrere Kinder großgezogen, leibliche und Pflegekinder. Auf einem Foto sieht man sie mit einer Schar von jungen Erwachsenen, sie sind zu ihrer Familie geworden, haben selbst Kinder. Martha Koch und ihr Mann haben ihnen geschenkt, was sie selbst nicht hatten: ein Zuhause und eine Familie.

Martha Koch und ihr Mann sind misshandelt und missbraucht worden, beide lebten in Kinderheimen. Ihr Mann ist schon gestorben, er war ihre große Stütze und hat zeitlebens darum gekämpft, dass man ihnen glaubt. Jetzt kämpft Martha Koch weiter, gegen die Flashbacks und Albträume, für Anerkennung und Entschädigung. Im Gespräch mit ihr, ob am Telefon oder in ihrem Wohnzimmer, bricht immer wieder ihr Schmerz durch. Und die Wut auf jene Institutionen, die sie als Kind nicht schützten und anschließend jahrzehntelang nichts oder viel zu wenig unternahmen, um das Geschehene aufzuklären. Im Mittelpunkt steht das Versagen der Stadt München.

Erst seit Kurzem bewegt sich etwas. Martha Koch, Frank Krause und andere ehemalige Heimkinder haben vor etwa zwei Jahren begonnen, der Süddeutschen Zeitung zu erzählen, was ihnen widerfahren ist. Das betrifft intime Details, es erfordert viel Mut, von diesen Verbrechen öffentlich zu berichten. Trotzdem haben sie es getan -, und im Münchner Stadtrat sind einige Politiker sehr erschrocken.

Der 200 Seiten lange Bericht ist voller Bilder wie aus einem Heinz-Rühmann-Film

Die Gespräche mit Martha Koch und anderen Betroffenen des Missbrauchs haben einen Vorlauf von fast acht Jahren. Schon 2013 meldet sich Vladimir Kadavy, ehemaliger Schüler im Oberammergauer Hänsel- und Gretel-Heim, das der Stadt München gehört, bei der SZ. Anlass ist die Berichterstattung über den Missbrauchsskandal am Kloster Ettal, in der auch ein Pater auftaucht, der in den Fünfzigerjahren von dort als Hausgeistlicher an das Hänsel- und Gretel-Heim versetzt wurde - nachdem er gerade eine sechsmonatige Haftstrafe wegen schwerer Unzucht mit Kindern verbüßt hatte. Die beiden Einrichtungen sind nur vier Kilometer voneinander entfernt. Kadavy vermutet, dass noch andere Mönche aus Ettal in Oberammergau verkehrten.

Er will der Sache auf den Grund gehen, schließlich hat er in dem Heim in Oberammergau einen wesentlichen Teil seiner Kindheit verbracht. Zwar wurde er selbst nicht Opfer sexueller Übergriffe, aber bald erfuhr er, dass andere Kinder, die damals mit ihm dort lebten, schlimmste Erfahrungen in dem Heim machten. Mehrere Betroffene sprachen darüber auch im Fernsehen, und 2014 veröffentlichte die Stadt München einen Bericht über den Alltag in den Münchner Kinderheimen zwischen 1950 und 1975. Im Vergleich zu den Aufarbeitungsberichten kirchlicher Einrichtungen, die auf öffentlichen Druck hin von unabhängigen Expertenkommissionen verfasst wurden, erscheint Kadavy die Untersuchung der Stadt München schon damals als höchst oberflächlich. Der 200 Seiten lange Bericht ist voller Bilder, die aus einem Heinz-Rühmann-Film stammen könnten: Buben in Lederhosen und Mädchen in Kleidchen, die fröhlich beim Essen am Tisch sitzen, auf der Wiese tanzen und musizieren. Der Missbrauch in Oberammergau wird erst am Ende und nur auf zweieinhalb Seiten thematisiert, als eine Facette von vielen im bunten Heimalltag. Wie viele Täter es gab, wie viele Kinder es traf, konnte nicht ermittelt werden, heißt es in dem Bericht - und die Stadt gibt sich damit zufrieden. Auch von möglichen Verbindungen zu anderen Einrichtungen wie dem Kloster Ettal ist nicht die Rede.

Krause erzählt, dass er und andere Kinder wie Sklaven im Keller gehalten wurden

Kadavy versucht, mehr über das Heim zu erfahren, spricht mit Missbrauchsopfern und meldet sich immer wieder bei der SZ. Lange ist nicht klar, wohin ihn seine Recherchen führen werden. Das ändert sich 2018, fünf Jahre nach seinem ersten Anruf. Bei einem Seminar zum Thema "Heimkindheiten" an der Evangelischen Akademie in Tutzing lernt er Martha Koch kennen. Sie war wie er im Hänsel- und Gretel-Heim, erzählt ihm aber noch nichts von dem Missbrauch, den sie in ihrer Kindheit erlitten hat. Stattdessen stellt sie ihm einen anderen Mann vor, der mit ihr in einem anderen Heim untergebracht war.

Es handelt sich um das Haus Maffei in Feldafing am Starnberger See, das damals vom Paritätischen Wohlfahrtsverband betrieben wurde. Die Einrichtung ist bis dahin in keiner Missbrauchschronik aufgetaucht. Aber der Mann, der im ersten SZ-Artikel zum Missbrauch ehemaliger Münchner Heimkinder Frank Krause genannt wird, erinnert sich an brutale Misshandlungen und jahrelangen Missbrauch in seiner Kindheit. In mehreren Gespräch mit Kadavy und dem Traumatherapeuten Jörg Jaegers - die beiden lernten sich ebenfalls bei dem Seminar in Tutzing kennen - schildert Krause, er und mehrere andere Kinder seien wie kleine Sklaven im Keller der Einrichtung gehalten worden. Zudem erzählt er, dass er in den Ferien wiederholt einige Wochen ins Kloster Ettal gefahren wurde. Dort hätten ihn mehrere Mönche missbraucht. Als Jugendlicher habe er dann ins Salesianum umziehen müssen, ein vom Orden der Salesianer Don Boscos betriebenes Heim in München-Haidhausen. Auch dort sei er nach wenigen Tagen von einem Pater missbraucht worden. Kadavy sieht sich in seinem Verdacht bestätigt, dass zwischen den Kinder- und Jugendheimen ein Austausch von Tätern bestand, eine Art Netzwerk.

Als Journalist fällt es nicht immer leicht, Fragen zu stellen

Krause ist bereit, auch mit der SZ zu reden. Doch die plötzliche Beschäftigung mit seiner Kindheit in den Sechzigerjahren hat vieles in ihm aufgewühlt. Es geht ihm zunächst sehr schlecht, erst nach einigen Monaten hat er sich wieder so weit erholt, dass er reden und Fragen beantworten kann. Dabei ist es Krause, wie auch allen anderen ehemaligen Heimkindern, mit denen die SZ in der Folge spricht, durchaus ein Anliegen, seine Geschichte zu erzählen. Dennoch erweisen sich die Gespräche als enorm belastend. Kaum ein Treffen, in dem keine Tränen fließen und die Stimme versagt, aus Verzweiflung, aus Trauer um das eigene Leben.

In solchen Situationen fällt es nicht immer leicht, als Journalist Fragen zu stellen, und doch ist es für die Wahrheitsfindung nötig. Fragen, wenn eine Schilderung missverständlich ist, wenn nicht sofort klar ist, was gemeint ist. Fragen, wenn die Erinnerung eines Betroffenen nicht zu objektiv feststellbaren Fakten passt, wenn Jahreszahlen oder Namen durcheinandergeraten. Das ist völlig normal, es geht schließlich um Geschehnisse, die ein halbes Jahrhundert zurückliegen. Für eine sorgfältige Recherche ist es zudem wichtig, Widersprüche und Lücken in der Erinnerung der Betroffenen zu thematisieren. Das alles braucht Zeit - auch wenn die Betroffenen zuweilen ungeduldig werden und auf eine schnelle Veröffentlichung der Geschehnisse drängen. Sie mussten schließlich schon lange genug warten.

Am Ende der Recherche steht die journalistische Bewertung umfangreichen Materials: Was Betroffene berichten und ihre Unterstützer sagen, was in Heimakten steht, was die Betreiber der Heime sagen, und welche Taten sie anerkennen. Beweise im juristischen Sinn lassen sich heute praktisch nicht mehr erbringen. Eine Strafverfolgung findet nach so langer Zeit nicht statt, die Taten sind verjährt, die Beschuldigten verstorben - sie können nichts mehr zur Aufklärung beitragen. Das erschwert auch Nachforschungen in den Organisationen und Einrichtungen, für die sie gearbeitet haben.

Die Verantwortlichen von damals können nicht mehr befragt werden

Insgesamt aber ergibt die etwa zwei Jahre andauernde, intensive Recherche ein plausibles Bild: In den Kinderheimen in Feldafing am Starnberger See und in Oberammergau sind offenbar Mädchen und Buben in den 60er- und 70er-Jahren misshandelt und missbraucht worden. Zu Missbrauch ist es möglicherweise auch im Keller des nahen Benediktinerklosters Ettal gekommen. Hier wie dort waren die Täter allem Anschein nach katholische Geistliche und auch Mitarbeitende in den Heimen. Ob das von Vladimir Kadavy vermutete Netzwerk zwischen den Einrichtungen und dem Münchner Stadtjugendamt existierte, lässt sich weder widerlegen noch bestätigen. Natürlich haben potenzielle Täter ihre Vergehen nicht dokumentiert, ebenso wenig die Institutionen selbst, und die Verantwortlichen von damals können nicht mehr befragt werden.

Konsequenzen haben die Recherchen dennoch: Noch vor Erscheinen des ersten SZ-Artikels kündigt der Paritätische Wohlfahrtsverband an, die Geschehnisse im Haus Maffei zu untersuchen und Betroffene, die dort Leid erfuhren, finanziell zu unterstützen. Die Stadt München reagiert auf die Artikelserie der SZ und beruft eine Kommission ein, um die Vorwürfe der ehemaligen Heimkinder zu untersuchen. Es beginnt die bisher vermutlich umfangreichste Missbrauchsaufarbeitung einer deutschen Kommune. Neben der Expertenkommission sollen ein Betroffenenbeirat und Wissenschaftler aufklären, was Mädchen und Jungen widerfahren ist, die zwischen Kriegsende und der Gegenwart vom Münchner Jugendamt in Heimen untergebracht wurden. Nicht nur in den drei städtischen Heimen, sondern auch in solchen anderer Träger im In- und Ausland und bei Pflege- und Adoptiveltern. An der Spitze der Kommission steht ein pensionierter Kriminalbeamter, er leitete jahrelang das Kommissariat für Sexualdelikte. Für erste Hilfsgelder hat der Stadtrat 800 000 Euro bereitgestellt. Bis Juli 2022 dauert es allerdings, dass Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) persönlich das bisherige Versagen der Stadt München einräumt und verspricht, nun alles zu tun, um die Vergangenheit aufzuarbeiten.

Letztlich haben sich Stadt und Paritätischer Wohlfahrtsverband nur bewegt, weil Betroffene wie Martha Koch, Frank Krause und andere erzählt und aufgeschrieben haben, woran sie sich erinnern, was in ihren Albträumen geschieht, und wie sie im späteren Leben immer wieder scheiterten, beruflich wie privat, weil die Erlebnisse der Kindheit so schwer auf ihnen lasten. Wie die Institutionen, denen sie anvertraut waren, sie offenbar dem Missbrauch und der Misshandlung auslieferten, und auch später kein Interesse an ihrem Schicksal zeigten. Das verbindet übrigens den medial intensiv begleiteten Umgang der katholischen Kirche mit Missbrauch und den der Stadt München sowie des Paritätischen Wohlfahrtsverbands: Obwohl schon die ersten Berichte über den Missbrauchsskandal im Jahr 2010 zeigten, wie verbreitet sexualisierte Gewalt und Misshandlungen bis in die 70er- und 80er-Jahre in Einrichtungen waren, in denen Kinder lebten, duckten sich die Verantwortlichen weg. Erst als die Versäumnisse und mutmaßlichen Verbrechen in ihren Einrichtungen publik wurden, waren sie bereit, sich mit der dunklen Seite ihrer Vergangenheit zu beschäftigen.

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