Süddeutsche Zeitung

Missbrauchsskandal:Kirche in der Vertrauenskatastrophe

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Das Verhalten hochrangiger Kleriker, vor allem das des emeritierten Papstes Benedikt XVI. erschüttert die SZ-Leser. Auch die Rolle des Staates missfällt vielen.

Zu "Zwölf Jahre des Schweigens" vom 24. Januar, zu "Ich doch nicht" vom 22. Januar, zu "Und die Opfer?", "Schuld sind die anderen" und "Ich hatte keine Kenntnis" vom 21. Januar und weiteren Artikeln:

Reue wäre gut gewesen

Es ist mehr als beschämend für einen emeritierten Papst, wenn ihm im hohen Alter Versäumnisse der Vergangenheit auf die Füße fallen. Doch statt seine Mitschuld zu bekennen, erklärt Joseph Ratzinger, er habe vom Verhalten des Priesters Peter H. nichts gewusst. Die Kritik der Gutachter, so Benedikt, stelle eine unzulässige Rückprojektion heutiger Anschauungen dar. Dieser Haltung ist vehement entgegenzutreten, denn das Gewissen darf keinen Anschauungen, keinem Zeitgeist oder wechselnden Moralvorstellungen unterworfen sein. Missbrauch bleibt Missbrauch.

Die jahrzehntelange Vertuschung von Unzucht und sexueller Belästigung durch geistliche Würdenträger rächt sich nun endlich. Es mutet höchst befremdend an, dass Ratzinger, obwohl von brillantem Geist, schrieb, aus heutiger Sicht sei mehr Aufklärung und Hinwendung zu den Opfern wünschenswert gewesen. Seine Sache war es demnach nicht. Unwürdig eines Oberhirten! Indem er den Gutachtern eine lückenlose Aufklärung wünscht, wäscht er seine Hände in Unschuld. Dass die Vorgänger und Nachfolger Ratzingers von den Missbrauchsfällen wussten, er jedoch nicht, wirft große Zweifel an ihm auf. Darf das Gewissen schweigen, um dem Ruf der Kirche nicht zu schaden?

Nein und tausendmal Nein! Auch Päpste können irren. Doch wer ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein. Wer wegsieht, schweigt oder gar verdrängt und dadurch den Missbrauch fördert, statt ihm Einhalt zu gebieten, schützt den Täter und macht sich mitschuldig. Als höchster Mittler zwischen Gott und den Menschen stände es dem emeritierten Papst Benedikt XVI. an, ein Vorbild abzugeben, indem er seine Versäumnisse reuig eingesteht und dadurch Menschlichkeit zeigt, in erster Linie in Demut vor den zahlreichen Missbrauchsopfern und nicht zuletzt um seines eigenen Seelenheils willen.

Christine Lanzinger, Steinrain

Unerträgliche Doppelmoral

Als gläubiger Christ in der Nachfolge Christi wird man nicht nur für die Kirche, sondern auch von der Kirche gekreuzigt. Ich bin als Mitarbeiter wegen meiner Homosexualität in der Kirche gemobbt worden, und das auch noch Jahre nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses. Das habe ich verarbeitet. Es löst aber Schmerz, Scham und Trauer aus, wie Bischöfe mit dieser Doppelmoral Priester decken, die sich an Kindern vergreifen, und mit welch unerträglicher Falschheit Papst Benedikt sich rechtfertigt. In Sprache und Argumentation zeigt sich ein unmenschlicher Funktionär .

Dipl. Theol. Matthias Möller, Augsburg

Was würde Jesus dazu sagen?

Als ich ein kleiner Junge war, waren Jesus und Winnetou meine Helden. Jetzt bin ich 86 Jahre alt und eine Frage beschäftigt mich seit etwa 75 Jahren: "Was würde Jesus dazu sagen?" Zum ersten Mal entstand sie, als meine Mutter mir erzählte, dass ihr geliebter Bruder, der am Niederrhein als Zollbeamter arbeitete, außerhalb des örtlichen Friedhofs begraben wurde, weil er evangelisch war. Dann erlebte ich einen sexuellen Missbrauch, als ein katholischer Priester uns drei Jungens beim Erkunden eines zerbombten Kirchturms erwischte. Er sperrte uns in der Sakristei ein, wir mussten die Hosen runterlassen, er beschäftigte sich mit unserem Geschlecht und legte uns nacheinander übers Knie und so weiter. Wieder fragte ich mich, was Jesus dazu sagen würde. In jeder Lebensphase tauchte diese Frage auf, wenn ich der katholischen Kirche begegnete. Wie verhielt sie sich im Dritten Reich? Wie ging sie um mit Frauen und Kindern von Priestern? Welche Rollen hatten Frauen in dieser Kirche? Wie passte der kirchliche Feudalismus in eine Demokratie? Und in den letzten Jahren die Missbrauchsgeschichten? Jetzt ist der Sumpf ganz oben angekommen, beim sogenannten Stellvertreter. Was würde Jesus dazu sagen, fragt immer noch der kleine Alfred in mir.

Alfred Preuß, Lychen

Milde zum Schutz des Zölibats

Es gibt einen Zusammenhang zwischen Nachsicht mit Missbrauchstätern und Härte gegen heiratswillige Priester: den Priestermangel. In den Fünfzigerjahren waren die Priesterseminare voll, Weihejahrgänge mit 50 und mehr Kandidaten keine Seltenheit. Laut WSW-Gutachten wurden damals sexuelle Verfehlungen erheblich strenger geahndet: Klosteraufenthalt ohne Freigang, Verbot, der Eucharistiefeier vorzustehen und Suspendierung. Seit in den Sechzigerjahren der Nachwuchs drastisch zurückging und vielen guten Priestern wegen Heirat gekündigt wurde - weltweit mehr als 100 000 -, konnten beschuldigte Kleriker "mit unverdienter Milde und Fürsorge seitens der kirchlichen Hierarchie rechnen", denn man konnte sie ja "verstecken" und sie wurden dringend gebraucht. 40 Kleriker setzten die Erzbischöfe von München-Freising weiterhin in der Seelsorge ein; 18 nach einschlägiger staatlicher Verurteilung. Das ging bis 2010. Die Personalpolitik war von Toleranz für nur scheinbar zölibatär lebende Pädokriminelle und andere Sexualstraftäter bestimmt. Da drückte man alle Augen zu. Das war bei Erzbischof Joseph Ratzinger nicht anders. Sie alle wären gut beraten, öffentlich sichtbar, klassisch katholisch Reue und Buße zu erwecken, wie es Rechtsanwältin Marion Westpfahl bei der Präsentation des Gutachtens empfohlen hat. Joseph Ratzinger wird bald vor seinem Richter Christus stehen, der nur einen Maßstab kennt: "Was ihr einem dieser Geringsten (nicht) getan habt, das habt ihr mir (nicht) getan."

Nach einer leichten Erholung in den 70ern ging die Zahl der Priesterweihen seit den 80ern kontinuierlich zurück. Von diesem Zeitpunkt an verschärfte sich der Umgang mit heiratswilligen Priestern noch einmal. Johannes Paul II. beendete eine zwischenzeitliche liberale Dispenspraxis, welche Priestern wenigstens kirchliche Heirat und Berufsausübung in der Kirche gestattet hatte. In der Erzdiözese München-Freising verloren gut 150 Priester, die offen zu ihrer Beziehung standen, Beruf und Lebensunterhalt. Kardinal Friedrich Wetter forderte sogar die kirchliche Erlaubnis, Religionsunterricht zu erteilen, zurück. Heiratswillige wurden maximal abgeschreckt und bestraft - zum Schutz des Zölibats. Missbrauchstäter erfuhren Mitleid und Fürsorge - zum Schutz des Zölibats. Welch eine Konfusion der Werte!

Generalvikar Peter Beer begriff den Zusammenhang als erster hochrangiger Kleriker der Erzdiözese. Er drang auf umfassende Aufklärung, Aufarbeitung und konsequentes Vorgehen gegen Verdächtige. Die Initiative "Priester im Dialog" und das Priesterforum empfehlen die Abschaffung des Pflichtzölibats, der laut MHG-Studie als ein Risikofaktor für sexualisierte Gewalt identifiziert wurde. Ein freigestellter Zölibat hätte mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht zu dieser "Bilanz des Schreckens" geführt. Das belegt schon die vergleichsweise geringe Zahl von Kinderschändern unter (verheirateten) Diakonen. Ohne Pflichtzölibat würde der Generalverdacht für zölibatäre Priester beendet. Wenn nicht jetzt - wann dann?

Dr. Edgar Büttner, Bad Aibling

Staat ist Komplize geworden

Durch das Gutachten der Anwaltskanzlei WSW wurde der katholischen Kirche endgültig der Mantel der Heiligkeit heruntergerissen und die darunter liegende Scheinheiligkeit erbarmungslos offengelegt. Die Widersprüche zwischen Worten und Taten maßgeblicher Kleriker werden beweiskräftig belegt. Erschreckend ist die nachgewiesene Missachtung kircheninterner Vorschriften. Durch seine Stellungnahme entwertet der emeritierte Papst Benedikt XVI. alles, was er nach seiner Zeit als Erzbischof in München zum Thema Missbrauch als Präfekt der Glaubenskongregation in Rom gesagt und veranlasst hat. Offensichtlich waren das nur Lippenbekenntnisse zum Schutz der Organisation Kirche.

Für alle, die an der Basis arbeiten, sind die Belege eklatanten Führungsversagens schmerzhaft. Ebenso schmerzhaft ist, dass die staatliche Justiz durch ihre auffallende Zurückhaltung bei der Verfolgung von Straftaten vielfach zum Komplizen der Kirche geworden ist. Damit hat der Missbrauch innerhalb der Kirche nicht nur dort Vertrauen zerstört, sondern auch das Vertrauen in die Strafverfolgungsbehörden und Gerichte beschädigt. Diese Dimension des Skandals - wenn es den Strafverfolgungsbehörden nicht mehr gelingt oder diese nicht gewillt sind, strafbare Handlungen angemessen zu verfolgen - scheint noch nicht im Bewusstsein der Deutschen angekommen zu sein. Soll der Staat einer Kirche, deren Führung absolutistisch agiert und vielfach gegen Grundsätze der Menschenwürde verstößt, weiterhin rechtlichen Schutz gewähren? Diese Frage muss beantwortet werden, wenn erkennbar ist, dass die Führung der Amtskirche diesen Schutz dazu missbraucht, um erforderliche und vom Kirchenvolk geforderte Reformen zu verhindern.

Thomas Brüstle, Ulm

Strafrecht auch in der Kirche

Betrachtet man die derzeitige Situation der Kirche und ihre Stellung in der Gesellschaft, etwa 50 Prozent der Bevölkerung gehören noch einer christlichen Gemeinschaft an - Tendenz abnehmend -, ergeben sich für mich nur folgende Konsequenzen: absolute Trennung von Staat und Kirche, Streichung aller Privilegien, keine Gehaltszahlungen der Kirchenvertreter mit staatlichen Mitteln, Kündigung aller alten Entschädigungsverträge, Durchsetzung des Arbeits- und Tarifrechts in kirchlichen Einrichtungen. Das Strafrecht gilt auch innerhalb der Kirche, nicht das Kirchenrecht. Wie kann es sein, dass Straftaten innerhalb der Institution "geahndet" und nicht sofort der Staatsanwaltschaft gemeldet werden? Der Umgang der Kirche mit dem Skandal zeigt, dass die Institution nur sich schützen will und nicht ihre Opfer. Beschämend!

Gerhard Mattil, Mörfelden-Walldorf

Fehlender Respekt

Sprachlosigkeit, Fassungslosigkeit, Wut: Eine Armada von katholischen Geistlichen missbraucht Kinder über Jahrzehnte, vielleicht Jahrhunderte. Als wären Kinder rechtlos. Als wären sie nur für Priester und ihre Bedürfnisse da. Nein, das Zölibat ist nicht schuld. Es ist fehlender Anstand, fehlende Empathie, fehlender Respekt, fehlende Scham, denn die Würde von Kindern ist unantastbar. Ich wünschte, es gäbe eine Hölle für diese Geistlichen und ihre Mitwisser.

Angelika Iff, Gemünden

Im Zweifel für die Kinder

Kinder- und Jugendarbeit unter der Schirmherrschaft der katholischen Kirche möchte ich nicht mehr sehen. Der Umgang mit den Vorkommnissen überzeugt mich nicht. Es wird vertuscht und gelogen, statt alles zu tun, damit so etwas künftig unmöglich wird. Exhibitionismus wird verharmlost, weil die Kinder nicht angetastet wurden. Pfui Teufel! Was ist mit den Kindern, die heute von der Kirche betreut werden? Wir als Gesellschaft sollten schleunigst die Konsequenzen ziehen. Im Zweifel für die Schutzbedürftigen.

Horst Bayer, München

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Quelle:
SZ vom 29.01.2022
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