77 Jahre SZ:"Ich hoffe auf mehr diverse und vielfältige Stimmen"

Lesezeit: 6 min

"Differenziertheit ist auch ein Gegengift zur wachsenden Polarisierung": Mirjam Zadoff über die "Süddeutsche Zeitung". (Foto: Lino Mirgeler/dpa)

Ein Gespräch mit Mirjam Zadoff, Direktorin des Münchner NS-Dokumentationszentrums, über das, was sie an der "Süddeutschen Zeitung" schätzt - und was diese besser machen könnte.

Von Joachim Käppner

Mirjam Zadoff, geboren 1974 in Innsbruck, ist seit 2018 Direktorin des Münchner NS-Dokumentationszentrums. Zuvor war die österreichische Historikerin als Professorin für Geschichte und Jüdische Studien an der Indiana University in Bloomington (USA) tätig.

SZ: Frau Zadoff, Sie sind Leserin der "Süddeutschen Zeitung". Wie nutzen Sie die tägliche SZ?

Mirjam Zadoff: Ich lese die SZ sehr gern, sie ist eine meiner beiden Tageszeitungen neben der New York Times, die ich mir aus meiner Zeit in Amerika mitgebracht habe. Jobbedingt fange ich immer mit dem Feuilleton an, aber ich lese auch sehr gern die Meinungsseite, dann die Seite Drei und den Politikteil. Fernsehen dagegen schaue ich kaum noch, mit Ausnahme von Filmen. Tatsächlich sind die beiden Zeitungen meine wichtigsten Informationsquellen.

Steht bei Ihnen daheim noch der klassische Fernsehapparat, vor dem sich früher die Familien versammelten?

Nein, den hatten wir nie. Unsere Kinder kennen das gar nicht mehr. Was wir ansehen, schauen wir auf dem Laptop - auch wenn der Bildschirm manchmal arg klein ist. Die SZ lese ich übrigens nur noch auf dem Tablet, der Auftritt dort gefällt mir sehr gut.

Was sind für Sie die Vorzüge?

Was alles möglich ist damit. Was ich zum Beispiel sehr mag, ist das digitale "Storytelling". Das ist ein tolles Format. Dort werden große Rechercheprojekte und Geschichten wie kürzlich über die dramatische Situation der Arbeiter in Katar, die Opfer der Weltmeisterschaft wurden, mit einer Bilderstrecke unterlegt. Oder nehmen wir die täglichen Grafiken zu Corona und jetzt zum Frontverlauf in der Ukraine. Digital gibt es eben faszinierende Möglichkeiten, Geschichten noch mal anders zu erzählen. Das kann man auch morgens in der U-Bahn lesen - ich gehöre offenbar genau zur Zielgruppe...

77 Jahre SZ
:Wie unser Journalismus visueller wird

Die Süddeutsche Zeitung arbeitet seit 77 Jahren mit Bildern und Grafiken, mit Layout und Design. Heute allerdings anders als früher. Ein Blick in die Werkstatt.

Von Wolfgang Jaschensky, Astrid Müller und Christian Tönsmann

Wie gefällt Ihnen das Spektrum der Meinungen in der Zeitung?

Bei den Kommentaren schätze ich eines besonders: die Bandbreite - es darf ganz unterschiedliche Meinungen zu bestimmten Themen geben.

Was dann in der Redaktion und in der Leserschaft gern ausgiebig debattiert wird.

Diese Pluralität ist wichtig und gar nicht selbstverständlich. Selbst in der New York Times gab es ja große Verwerfungen, wer im Meinungsteil was schreiben darf ...

... der Ressortleiter musste sogar gehen, weil er den Gastbeitrag eines Trump-Gefolgsmanns abgedruckt hat, der den Einsatz des Militärs gegen Demonstranten forderte.

Ich finde es grundsätzlich sehr gut, dass in der SZ unterschiedliche Positionen zu Wort kommen, dass es diese Vielfalt gibt. Der demokratische Diskurs muss das aushalten. Schwierig finde ich es nur, wenn die Kritik in persönliche Attacken ausartet, wie kürzlich im Feuilleton Maxim Biller über Eva Menasse. Das ging mir zu weit.

Zu polemisch für Ihren Geschmack?

Zu persönlich. Aber zurück zum Positiven. Die Süddeutsche scheut sich nicht, komplizierte Zusammenhänge auch als solche zu behandeln und zu erklären. Gerade weil wir in einer Zeit der permanenten Krise leben, suchen viele Menschen Antworten in scheinbar einfachen Wahrheiten oder flüchten sich gleich in Verschwörungsmythen, weil sie gar nicht mehr einordnen können, was passiert. Da hilft eine differenzierte Berichterstattung dabei, Orientierung zu geben, mit diesem täglichen Wahnsinnsfluss von Informationen zurechtzukommen. Differenziertheit ist auch ein Gegengift zur wachsenden Polarisierung.

In den USA hat diese inzwischen den Charakter eines Kulturkampfes.

In den USA finde ich es schockierend, wie weit sich viele Republikaner inzwischen von der Wahrheit entfernt haben und vom Wunsch, einen "common ground" zu finden. Diese Polarisierung hat sich seit 2016 unter Donald Trump rasant beschleunigt.

Kann das auch in Deutschland geschehen?

Zumindest erleben wir auch hier eine wachsende Polarisierung. Und wenn sich konservative Politiker wie Friedrich Merz mit Begriffen wie "Sozialtourismus", den ukrainische Geflüchtete angeblich bei uns betreiben, aus dem Vokabular des rechten Randes bedienen, ist das ein weiterer Schritt dorthin. Und Teile der Presse, etwa bei Springer, befördern dies ganz bewusst.

Und ist Ihnen die SZ da kämpferisch genug? Immerhin ist der Einsatz für Freiheit und Demokratie ja sogar im Redaktionsstatut festgeschrieben.

Ja, es gibt dort viele Stimmen, die das tun. Ich schätze das sehr und hoffe, dass in der Zukunft auch noch mehr diverse und vielfältige Stimmen zu hören sind. Die SZ hat einer großen Öffentlichkeit gespiegelt, was es bedeutet, dass jüdische Einrichtungen permanent unter Polizeischutz stehen müssen. Und sie tritt dafür ein, dass der Staat stärker gegen Rechtsextremismus vorgehen muss. Da weiß man, wo die Zeitung steht und wie sie das Wächteramt der Presse begreift. Oder wenn sie über lokale Initiativen berichtet, die zum Beispiel gegen Rassismus oder für die Erinnerung an NS-Opfer eintreten. Berichte über eine Geschichtswerkstatt am Stadtrand bringen ja nicht die Klicks auf der Homepage, sind aber sehr wichtig.

Wie fühlen Sie sich und Ihre Institution denn von der Zeitung behandelt?

Also, wir hier im NS-Dokumentationszentrum können uns wirklich nicht über einen Mangel an Interesse seitens der SZ beschweren, wir machen ja auch manche Projekte zusammen als Partner, wie etwa eines mit dem Feuilleton-Redakteur Alex Rühle zum Thema der zivilen Zwangsarbeit im Nationalsozialismus. Unabhängig von uns selbst: Leider wissen wir aber auch, dass der Süddeutschen gelegentliche Polarisierungen nicht fremd sind - wie bei antisemitischen Karikaturen, von denen in den vergangenen Jahren mehrere abgedruckt wurden.

Die SZ legt größten Wert darauf, mit antisemitischen Haltungen nichts zu tun zu haben, und sieht diese Zeichnungen eher als bedauerliche Verkettung von Pannen und Missverständnissen. Wie haben Sie das erlebt?

Das ist schon ein Problem, wenn die führende Tageszeitung Karikaturen veröffentlicht, die Marc Zuckerberg als Krake darstellen und damit an die antisemitische Nazipropaganda erinnern. Ich bin alles andere als ein Fan von Zuckerberg, aber das geht einfach nicht. Eine Reaktion darauf war das Gefühl: Jetzt fällt mir meine Zeitung in den Rücken! Das war wirklich eine Enttäuschung.

Was natürlich nicht passieren sollte ...

Nein. Ich denke auch nicht, dass es eine Folge irgendeiner antisemitischen Haltung innerhalb der Redaktion war. Aber das fehlende Wissen oder die Reflexion darüber, was antisemitische Bildsprache ist - und das in Deutschland! - war schon erstaunlich. Eine dieser Zeichnungen haben wir sogar in unserer Ausstellung "Die Stadt ohne" gezeigt, die sich mit Strukturen und Symbolen der Ausgrenzung befasste.

Wo sehen Sie denn Grenzen der Karikatur?

Das ist eine sehr komplizierte Frage, in Paris wurden Mitglieder der Redaktion von Charlie Hebdo wegen einer Karikatur ermordet. Hierzulande wurde im Rahmen der Documenta-Debatte den ganzen Sommer darüber diskutiert. Die Sensibilität für antisemitische Bildsprache fehlte ja auch in Deutschland lange und zum Teil bis heute. Wie die SZ berichtete, fanden sich zum Beispiel in der Staatlichen Kunstsammlung Dresden eine Reihe von antisemitischen Puppen, Texten und Zeichnungen, unkommentiert und online einsehbar. Während in Kassel gestritten wurde, verschwanden sie aus der Online-Sammlung. Die Documenta-Debatte, die so viele Verletzungen hinterlassen hat, sollte eigentlich dazu anregen, dass offen mit solchen Versäumnissen umgegangen wird. Auch stereotypisierte Darstellung von Schwarzen, wie etwa im Logo der Firma "Lucaffé" gehören ja immer noch zum Alltag. Wenn der Antisemitismus hingegen so blond, jung und ansehnlich daherkommt wie bei der Kabarettistin Lisa Eckhart, dann finden ihn viele okay - dabei begegnet uns bei ihr die ganze Mottenkiste des rassistischen Antisemitismus des frühen 20. Jahrhunderts.

Von diesem Reizthema einmal abgesehen: Was könnte die SZ denn besser machen?

Was mir im Moment zu kurz kommt, ist ein Beharren auf gesellschaftlicher Solidarität, gerade jetzt in der Krise. Denn daran fehlt es. Das wirtschaftsstarke Deutschland müsste sich doch viel mehr fragen: Wie schützen wir denn all die Menschen, die sich jetzt vieles nicht mehr leisten können aufgrund von Inflation und rasant steigenden Energiepreisen? Wie schaffen wir das gemeinsam? Das hat früher doch gerade die Stärke dieser Gesellschaft ausgemacht: nicht zuzulassen, dass eine solche Schneise zwischen Arm und Reich entsteht wie etwa in den USA. Aber wir sind längst dort angekommen, anstatt die Wohlhabenden höher zu besteuern und gesellschaftliche Solidarität zuzulassen. Auch auf globaler Ebene geht es jetzt darum: Die SZ könnte die Belange des sogenannten globalen Südens und unsere Verantwortung dafür durchaus noch stärker beleuchten. Das wird immer mehr zum Thema werden durch die Klimakatastrophe.

Die Perspektive ist zu westlich?

Ja. In Pakistan passiert eine präzedenzlose Flutkatastrophe, die auch unser Problem ist und teilweise auf unsere Lebensweise zurückgeht - die westliche Welt ist Hauptverursacher der Klimakatastrophe. Aus Namibia soll nun grüner Wasserstoff kommen, um uns durch die Energiekrise zu retten. Trotzdem dürfen Namibier auf keine Visaerleichterungen in Deutschland hoffen, dem Land, von dem aus sie kolonisiert wurden. Es gibt dort nach wie vor deutsche Zeitungen und seit einigen Jahren auch Altenheime für Deutsche, die ihren Platz an der Sonne finden wollen. In Somalia gibt es eine fürchterliche Hungerkatastrophe wegen der klimawandelbedingten Dürre, anderswo macht die Erosion ganze Landstriche unbewohnbar. Rund um Tod und Begräbnis der Queen hat zu meiner Überraschung auch meine Zeitung in einer Ausführlichkeit über das britische Königshaus berichtet, die ich mir für diese Themen, also Klimakatastrophe oder die Länder des globalen Südens, wünschen würde.

Natürlich war das Leserinteresse am Thema Königshaus auch sehr groß.

Das wirkte angesichts der bestürzenden Gegenwart von Krieg und Krisen beinahe wie eine Art Weltflucht. Aber die kann sich niemand mehr leisten - nicht, weil wir angesichts der Situation resignieren sollen, sondern weil jetzt der Moment ist, etwas zu verändern.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Jubiläum
:Wir feiern 77 Jahre SZ

Blicken Sie hinter die Kulissen von Deutschlands größter Qualitätstageszeitung. Und lesen Sie, was Prominente über die SZ zu sagen haben.

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: