Süddeutsche Zeitung

Der Fall Ursula Herrmann:Es bleibt der Schmerz

Michael Herrmann kämpft auch 39 Jahre nach dem Tod seiner kleinen Schwester Ursula für sein Recht auf Wahrheit. Wie kommt man jemandem nah, den die einen hartnäckig nennen, die anderen fanatisch?

Von Theresa Hein

Kurz vor Weihnachten, vier Monate nachdem ich Michael Herrmann das erste Mal getroffen hatte, schrieb ich einem Kollegen vom SZ-Magazin, ob wir uns in der Cafeteria treffen könnten. Der Kollege ist Vorbild und Mentor für mich, er liest meine Texte, bevor sie an die Chefredaktion gehen, ab und zu gehen wir Kaffee trinken, was dann so läuft: Er zahlt, ich erzähle. Einmal im Jahr bekommt er dafür eine Postkarte zu Weihnachten.

An diesem Dezembertag im Jahr 2018 also kam mir der Kollege in der Cafeteria entgegen. Ich weiß nicht, ob er an meiner Körperhaltung oder an meiner Stirn ablesen konnte, dass ich mit der Recherche nicht vorankam. Jedenfalls rief er mir schon von der Tür aus zu, "Was ist, Theresa, klappt's nicht, oder was?", denn er ist ein Mensch, der gerne schon von der Tür aus ruft. Heute denke ich, dass ich da den wesentlichen Fehler begangen habe.

Ich hätte sagen sollen, nein, es klappt nicht. Ich hätte sagen sollen, ich brauche einen zweiten Autor oder eine zweite Autorin.

Aber ich habe es nicht getan. Ich hatte kurz überlegt, ob man nicht vielleicht zwei Menschen für diese Recherche brauchen würde. Manchmal werden Texte schlicht besser, wenn man sie im Team bearbeitet. Nicht, weil es einer allein nicht könnte, sondern weil bei komplizierteren Recherchen vier Augen nie schaden. So auch bei dieser verworrenen Aktengeschichte und den noch verworreneren Persönlichkeiten im Fall Herrmann. Aber ich hatte mir die Antwort auf die Frage schnell selbst gegeben: Wenn du dir mit 28 eine Riesenrecherche vornimmst und dann nach vier Monaten sagst, ich kann es nicht alleine, dann bist du nicht nur der Autor, der es nicht alleine kann. Du bist die Frau unter dreißig, die es nicht alleine kann.

Ich weiß auch, dass niemand von den Kolleginnen oder Kollegen vom SZ-Magazin das gedacht hätte, vermutlich hätte nur ich selbst es gedacht. Das war übrigens die Zeit, in der Claas Relotius noch ein unerreichtes Vorbild für viele junge Journalisten war. Ein Typ, der alle drei Monate einen Text veröffentlichen konnte, in dem ständig irgendwelche Menschen anfingen, im passenden Moment zu singen, und meine Kolleginnen und ich fragten uns neidisch, wo man solche Leute herbekam. Und ich eierte herum wegen ein paar Akten und einem freundlichen Herrn in Augsburg?

Also sagte ich an diesem Dezembernachmittag in der Cafeteria zu dem Kollegen: Doch, klappt, ist nur ein bisschen kompliziert.

Das erste Mal sah ich Michael Herrmann im Garten meiner Eltern, im August 2018. Nur auf Papier natürlich, im München-Teil der Süddeutschen, die aufgeschlagen neben mir auf der Bank lag. Ich hatte den Artikel mit dem Titel "Michael Herrmann bekommt Schmerzensgeld" fast fertig gelesen, als meine Mutter, die ich gerade besuchte, mir eine Tasse Kaffee in die Hand drückte, und sagte: "Wahnsinn, oder?" Ich nickte und wusste sofort, was sie meinte.

Seit 37 Jahren war die Schwester von Michael Herrmann tot, und er stritt immer noch vor Gericht darum, wie sie zu Tode gekommen war. Er zweifelte an der Schuld des Verurteilten, kämpfte für sein Recht auf Wahrheit. Ich machte mit dem Handy eine kurze Google-Suche, es gab haufenweise Artikel und Reportagen über diesen Mann. Allerdings keine, in der mir Herrmann als Mensch nahegekommen wäre, in dem ich seine Beweggründe verstanden hätte.

Herrmann hatte drei Kinder, ich schätzte, sie mussten ungefähr so alt sein wie ich, etwas jünger vielleicht. Ich stellte mir vor, wie es für mich und meine Geschwister wohl wäre, wenn meine Mutter oder mein Vater vor Gericht mit etwas beschäftigt wäre, das fast vierzig Jahre her war, wenn es meine Familiengeschichte wäre, die von den Zeitungen so häufig verhandelt würde, weil meine Eltern ihre Zweifel nicht in Ruhe ließen. Wie geht eine Familie damit um, dass ein Mitglied immer noch mit dem Herzen in der Vergangenheit hängt? Wenn einer in der Familie traumatisiert ist - wie erleben die anderen dieses Trauma?

Ich schrieb Herrmanns Anwalt und bekam noch am selben Tag eine Antwort mit Michael Herrmanns Kontaktdaten. Herrmann und ich verabredeten uns in der Woche darauf in einem Café in Augsburg, es war ein heißer Augusttag, wir tranken Kaffee gegen die Mattigkeit und Apfelschorle gegen den Durst. Das erste Gespräch lief gut, ich erklärte Herrmann, was ich vorhatte - dass ich ihn gerne zu Hause besuchen würde, mit seinen Kindern sprechen wollte, ihn im familiären, aber auch im Arbeitsumfeld begleiten wollte. Herrmann wunderte sich nicht darüber. Er hatte schon genug mit Journalistinnen und Journalisten zu tun gehabt. Er verstand sofort, dass es nicht nur um Gespräche und Dialog ging, sondern um "Szenen", er stimmte zu, als ich vorschlug, vielleicht könnte ich mitfahren, wenn er mal wieder an den Ammersee führe. Er sagte, er könne sich auch vorstellen, dass seine Kinder über ihre Erfahrungen sprechen wollten, nicht alle, aber vielleicht der älteste Sohn. Und dann sagte er, dass auch seine Mutter Interesse an einem Gespräch habe, sie lebe im Pflegeheim, aber er habe ihr von der SZ-Journalistin erzählt. Ich antwortete, das wäre natürlich sehr schön.

Ich weiß noch, dass ich mir auf gar keinen Fall anmerken lassen wollte, wie interessant ich das fand: mit drei Generationen aus dieser Familie zu sprechen, die alle das gleiche Trauma erlebt haben, zwei von ihnen direkt, die Mutter und der Bruder, einer von ihnen indirekt, Herrmanns Sohn.

Es wurde natürlich eine ganz andere Geschichte. Es wird meistens eine ganz andere Geschichte.

Über verschiedene Quellen bekam ich Zugang zu mehreren Gigabyte Gerichtsakten, entzifferte dreißig Jahre alte, mit der Schreibmaschine getippte Protokolle der Polizei Fürstenfeldbruck, las in Foren wilde Verschwörungstheorien zu Ursula Herrmanns Entführung. Normalerweise erzähle ich kaum etwas von größeren Recherchen. Auf längeren Projekten sitze ich wie ein dickes, zufriedenes Huhn, das nervös wird, wenn man ihm zu nahe kommt.

Wenn Kolleginnen oder Freunde fragen, woran ich gerade arbeite, antworte ich meistens in Ein-Wort-Sätzen. Über den Fall Ursula Herrmann und ihren Bruder redete ich, zumindest zu Hause, pausenlos, beim Frühstück, nach dem Haarewaschen, abends auf dem Balkon. Mein Partner muss sich in dieser Zeit gewünscht haben, sich manchmal einfach nur die Hände auf die Ohren zu legen, wenn ich nach Hause kam.

Denn trotz der monatelangen Besuche und trotz der Gespräche hatte ich das Gefühl, es gelang mir kaum, Michael Herrmann zu verstehen. Ich erlebte ihn als Menschen, der sich sehr wenig öffnete und zugleich sehr gern wollte, dass über ihn berichtet wird. Er wurde nie emotional, er wurde nie unfreundlich, er regte sich nicht auf. Nicht, dass das etwas Schlechtes wäre, aber unsere Gespräche blieben immer an einer Oberfläche, unter die ich nicht blicken durfte. Herrmann blieb nicht nur immer ruhig, er blieb auch, das war zumindest mein Gefühl, kalkuliert. Ich merkte es an der Art, wie er mir Geschichten erzählte - immer Geschichten, die er schon häufig erzählt haben musste -, wie er mich fragte, was ich denn glaubte, woraufhin ich meine freundliche Standardantwort gab: "Was ich glaube, ist nicht wichtig", wahlweise auch "Ich bin keine Anwältin".

Je öfter ich Herrmann besuchte und je tiefer ich in die Familiengeschichte vordrang, desto größer wurde mein Respekt vor Herrmann, davor, wie er es schaffte, seine Familie systematisch aus ihrer eigenen Familiengeschichte rauszuhalten. Herrmanns Mutter entschied sich doch dagegen, mit dem SZ-Magazin zu sprechen; sie hat, soweit ich weiß, bis heute keinem Journalisten und keiner Journalistin von der Entführung ihrer Tochter erzählt. Auch Herrmanns Kinder wollten nicht mit Journalisten sprechen. Also blieben Anwälte, Freunde, Kollegen, Michael Herrmann selbst und seine Lebensgefährtin. Und Herrmanns Psychotherapeut, den er von der Schweigepflicht befreite. Ein großer Vertrauensbeweis, einerseits. Andererseits ließ mich das Gespräch mit Herrmanns Arzt aufhören zu hoffen, dass Herrmann mir erzählen könnte, was er tief in seinem Inneren glaubte. Oder ob er sich Gedanken darüber machte, was sein Verhalten für seine Familie bedeute. Was ihn nachts wach hielt. Wovor er Angst hatte. Was er sich von ganzem Herzen wünschte. Denn Herrmann, das bestätigte mir auch der Psychotherapeut, spielte nichts vor, wenn er mir so ruhig gegenübertrat. Er war einfach ruhig.

Herrmann hatte sich genau überlegt, wen er als meine Gesprächspartner vorschlug. Das bedeutete nicht, dass ich nicht versuchte, noch mehr Menschen zu finden. Über Umwege erhielt ich sogar einen Kontakt zu Herrmanns Exfrau und fragte, ob sie Interesse hätte, mit mir zu sprechen. Aber sie wollte nicht, und ich beließ es dabei. Ich merkte, dass ich irgendwann in meinen Versuchen, mehr über den Menschen Herrmann herauszufinden, genauso hartnäckig und penetrant wurde wie Herrmann in seinen Theorien zum Tod seiner Schwester. Ich bewegte mich immer etwas zu nah an der Grenze zu einer Art von Journalismus, die ich eigentlich ablehne. Dass ich die Grenze nicht überschritten habe, ist das Einzige, womit ich im Rückblick auf diese Arbeit heute noch zufrieden bin.

Denn auch das Schreiben fiel mir schwer: Wie fasst man in Worte, was die einen "hartnäckig" nannten, die anderen "fanatisch" (ein Gesprächspartner sagte einmal, man dürfte ihm "keine Plattform bieten")? Herrmann hatte sich über die Jahre und Jahrzehnte hinweg auf seine Sichtweise versteift. Das wollte ich darstellen; gleichzeitig wollte ich um jeden Preis seine Würde wahren. Menschen zu richten, ist einfach, sie zu verstehen, ist schwer; den Satz eines Kollegen hatte ich immer im Kopf.

Ich sammelte über die Monate alles, was ich an Gesprächen und Informationen finden konnte, um ein Porträt über den Menschen und Hinterbliebenen Michael Herrmann aufzuschreiben, das ihm gerecht werden würde. Ich besuchte den forensischen Psychiater Norbert Nedopil an der LMU und unterhielt mich mit ihm über das Verhalten Hinterbliebener nach Gewaltverbrechen in Familien, eines von gefühlt hundert Gesprächen, das nicht im Text landete. Ich schrieb verschiedene Ausführungen der gleichen Geschichte und fand sie alle ungenügend, in einem Ordner sammelte ich mehr als zwanzig verschiedene Versionen (nicht: zwanzig Versionen mit verschiedenen ersten Sätzen. Zwanzig verschiedene Texte).

Wenn ich dachte, jetzt bin ich fertig, die Version ist es, gab ich den Text meinem Partner zu lesen. Er sagte mir, die Versionen würden immer schlechter werden. Er hatte recht. Ich trug nur noch Schlafanzughosen. Ich erlegte mir "Sozialverbot" auf. Ich bekam Fieber. Ich aß mein Eigengewicht in Schoko-Knuspermüsli. Ich schaute "Der Herr der Ringe", alle drei Filme an einem Wochenende. Ende Februar 2019 schickte ich eine Textversion, die ich einigermaßen erträglich fand, an den befreundeten Kollegen. Er schickte sie zurück mit den Worten: "Hm ja, schaust noch mal, oder?" Ich wusste, dass das Code war für: "Kannst du besser."

Anfang April beschloss ich, wieder Jeans zu tragen, und gab mir noch eine Woche. Ich telefonierte ein letztes Mal mit Gesprächspartnern, auch noch mal mit Michael Herrmann für letzte Nachfragen, von denen ich dachte, sie könnten noch weiterhelfen. Zuerst kürzte ich drei Viertel des Textes. Dann schrieb ich noch einmal alles neu, ein letztes Mal. Ich schickte den Text nach einer Woche mit wenig Schlaf ab. Der Kollege meldete sich mit einer Sprachnachricht. Ich traute mich zwei Tage lang nicht, sie anzuhören. Ich weiß nicht mehr, was er sagte. Aber er fand den Text jetzt gut. Im Winter wurde der Text für den Reporterpreis nominiert. Viel wichtiger war für mich allerdings, dass ich verstanden hatte, dass ich die Geschichte nicht besser hätte aufschreiben können, als sie war. Ich hatte mir zwar etwas anderes vorgestellt, aber wenn man Vorstellungen aufschreiben will, muss man Romane schreiben.

Es wurden sieben Monate Recherche, geplant hatte ich ursprünglich mit zwei. Wie lange ich am Ende am fertigen Text geschrieben habe, weiß ich nicht mehr. Im August 2019 erschien "Bruderherz" im SZ-Magazin. Ich war gerade im Sommerurlaub in der Bretagne, es regnete in Strömen. Ich habe den Text nicht noch einmal gelesen.

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