Süddeutsche Zeitung

Mathe:Muss das sein?

Ob es wichtig fürs spätere (Berufs-)Leben ist, Funktionen ableiten und Integrale bilden zu können - darüber gibt es unterschiedliche Meinungen. In einem sind sich aber fast alle einig: Üben hilft - und gute Lehrer ebenso.

Zu "Mathe auf der Schule hilft uns überhaupt nicht" vom 11. Juni:

Nicht übertreiben

Meine Mathematiklehrer an einem Kleinstadtgymnasium waren imponierende Menschen. Sie bewältigten klaglos die chaotischen Schuljahre nach dem Krieg. Als wir 1953 Abitur machten, hatten wir alles gelernt, was wir zum Studienbeginn in naturwissenschaftlich-mathematischen und ingenieurwissenschaftlichen Studiengängen brauchten. Beim Klassentreffen haben mir die betreffenden Mitschüler (Chemiker, Biologe, Druckmaschinenkonstrukteur, Neurophysiologe, Physiker, Arzt, Maschinenbau-Dozent) das ausdrücklich bestätigt. Der Gedanke an einen mathematischen Vorkurs vor Studienbeginn wäre uns absurd erschienen. Später als Hochschullehrer habe ich natürlich über die lückenhaften Kenntnisse der Erstsemester gejammert. Mir und den meisten meiner Kollegen scheint es so, als sei der Mathematikunterricht durch modische Eingriffe der Kultusministerien schlechter geworden.

Ranga Yogeshwars Feststellung "Mathe auf der Schule hilft uns überhaupt nicht" halte ich dennoch für maßlos übertrieben. Gewiss, Abiturienten haben nicht ganz das gelernt und geübt, was die Hochschule früher voraussetzen konnte. Aber sie haben etwas gelernt, und sei es nur die Fähigkeit, in einem einwöchigen Vorkurs den Anschluss an die Anfängervorlesungen zu erreichen. Der Kollege Yogeshwar möge sich einen Augenblick in die Situation eines Dozenten versetzen, der in der Anfängervorlesung 300 Studenten ohne vorherigen Mathematikunterricht für sein Fach gewinnen soll. Es wäre ein Albtraum. Vielen Feststellungen in dem Interview stimme ich zu. Aber dass Integrale und die Ableitung von Funktionen später auch von Leuten in Mint-Berufen höchstens im Rahmen von Spezialstudien gebraucht würden, widerspricht meinen Beobachtungen.

In den naturwissenschaftlich-mathematischen Fächern bemüht man sich meist, Beobachtungen ohne Übertreibungen und Schmuck zu darzustellen. Sollten wir nicht einfach sagen, wo es den Studienanfängern häufig an Kenntnissen und vor allem an Übung fehlt? Vieles am Mathematikunterricht ist kritikwürdig. Aber muss man gleich das Kind mit dem Bad ausschütten?

Dieter Müller, Haste

Intensives Üben

Ranga Yogeshwar behauptet, Mathe in der Schule helfe uns überhaupt nicht. Auch Menschen in Mint-Berufen bräuchten in ihrem späteren Leben keine Ableitungen oder Integrale von Funktionen. Diese Aussagen sind grundfalsch. Wir sind seit vielen Jahren als Bauingenieure in der Praxis tätig und haben dabei erfahren, wie sehr Mathematik eine zentrale Bedeutung in unserem Beruf hat. Gerade auch das genaue Verständnis für Ableitungen und Integrale wird häufig benötigt, und dieses Verständnis kann in der Schule nur erworben werden, indem Ableitungen und Integrale intensiv an Funktionen geübt werden. Im Beruf wird dann vorausgesetzt, dass man diese Operationen beherrscht, weil grundlegende Erkenntnisse oft erst aus weitergehenden Anwendungen der Mathematik gezogen werden können.

Dies soll hier nur an einem Beispiel gezeigt werden: Um eine Vorhersage über eine Hochwassergefahr an einem Fluss zu machen, genügt es nicht, die momentane Stärke eines Starkregens an dieser Stelle zu beurteilen. Vielmehr muss ein Integral gebildet werden über das Einzugsgebiet des Flusses und den zeitlichen Verlauf des Niederschlags. Ohne Schulmathematik gibt es also keine genauen Hochwasserwarnungen.

Ranga Yogeshwar sagt, Mathematik sei eine Kunstform. Das ist richtig. Die Kunst steckt jedoch nicht im "Mysterium der Primzahlen", sondern in der virtuosen Anwendung der Methoden der Mathematik in praktischen Aufgaben. Dies kann wie jede andere Kunst nur durch intensives Trainieren und Üben erlernt werden.

Schüler, Eltern und Journalisten sollten sich deshalb nicht von Ranga Yogeshwar beirren lassen, sondern Mathematik in der Schule als etwas sehr Wichtiges ernst nehmen. Im Leben kommt es letztlich nicht darauf an, wie Mathematik unterrichtet und gelernt wurde, sondern nur darauf, ob und wie man sie beherrscht.

Prof. Dr.-Ing. Peter Gebhard, Prof. Dr.-Ing. Rupert Kneidl, Baldham

Für den Alltag

Ranga Yogeshwar spricht mir - und sicher unzähligen Schülern und Eltern - aus der Seele. Was vor allem in Bayern mit Mathe veranstaltet wird, spottet jeder Beschreibung. Das Angstfach Nummer eins, unterrichtet von meist wenig inspirierenden Lehrern, mit unterirdisch schlechten Büchern als Lehrmaterial. Vor ein paar Jahren fielen zehn Prozent der Abiturienten im sprachlichen Gymnasium eines meiner Kinder durch das Abitur; fast alle davon wegen 0 Punkten in Mathematik. Keiner dieser junger Menschen war wegen eines überdurchschnittlichen Interesses für Naturwissenschaften an einem sprachlichen Gymnasium. Trotzdem sind sie gezwungen, in diesem Fach Abitur zu machen. Mit diesem "Prüfungsmissbrauch" des Faches werden wir sicher keine kompetenteren Berufstätigen ausbilden.

Wenn Schüler mies in Mathe sind, wird das immer ihnen angelastet. Niemals würde sich das Ministerium überlegen, ob systemisch etwas falsch läuft. Selten fragt sich ein Lehrer, ob es an seiner Lehrkompetenz mangelt. Anscheinend niemals unternehmen die Schulbuchverlage ernsthafte Anstrengungen, ihre Bücher zu verbessern. Ob wir mit "Südkoreanern mithalten" können, nur weil jeder sich durch das quälen muss, was zum Beispiel in England nur als Wahlfach angeboten wird, ist die große Frage. Seit meinem Abitur vor 30 Jahren habe ich nie mehr Funktionen abgeleitet oder sonst irgendwas mit ihnen unternommen. Wichtiger wäre, dass jeder Schüler die Alltagskompetenzen, von Prozentrechnung über Zinsrechnung und Statistik, beherrscht. Angewandte Mathematik für den Alltag für alle und mathematische Kür für die, die es wollen und können. Im Sinne der Allgemeinbildung sollen alle Schüler von allem kosten können, das ist sicher ein löbliches Prinzip. Dann frage ich aber: Wo bleibt der Unterricht im Programmieren für alle? Wenn etwas Technisches die Gegenwart und Zukunft beherrscht, dann doch sicher das Digitale. Bei uns beschränkt sich Informatik auf Zehn-Finger-Tippen und Word-Dokumente-Öffnen, es sei denn, man besucht ein naturwissenschaftlich-technologisches Gymnasium und wählt Informatik.

Ob es nun das Curriculum betrifft, die Lehrerausbildung, die zu kurze Grundschule oder die Abhängigkeit der Schullaufbahn vom familiären Hintergrund: Irgendwann muss sich doch selbst in Bayerns Schulen irgendwas nach vorne bewegen. Nur wann? Für meine Kinder wird's zu spät sein.

Benita Goodman, München

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Quelle:
SZ vom 18.06.2019
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