Lösungen für die Optimierung von Lieferketten existieren bereits seit Mitte des 20. Jahrhunderts. Der russische Mathematiker Lew Pontrjagin und der US-Amerikaner Richard Bellmann gelten als Väter der Theorie der optimalen Steuerungen. Die Grundlagen dafür entwickelte Issac Newton, der im 17. Jahrhundert in der "klassischen Mechanik" den Einfluss von Kräften auf die Bewegung von Körpern beschrieben hat.
Im Prinzip geht es dabei darum, Widerstände zu minimieren und einen Bewegungsfluss mit kleinstmöglichem Energieaufwand zu schaffen. Erste Anwendung fand die Theorie allerdings nicht in der Ökonomie, sondern in den Ingenieurswissenschaften. Die Landung und Steuerung einer Mondfähre durch die USA funktionierte auch deshalb, weil Wissenschaftler wie Pontrjagin die Weichen dazu mathematisch gestellt hatten. Doch auch die Lieferketten wurden zunehmend im Spiegel der optimalen Steuerungen diagnostiziert und verbessert.
Allein der Weg dorthin ist die große Herausforderung. Der Optimalzustand ist vor allem ein Wunschszenario, zu dessen Vollendung so viele Informationen benötigt werden, dass eine menschliche Annäherung nur in simplen Fallbeispielen möglich ist. "Das Kernproblem ist, dass wir die Struktur des Optimums oft nicht kennen", sagt Lucas Böttcher, Professor für rechnergestützte Sozialwissenschaften an der Frankfurt School of Finance and Management (FS).
Gemeinsam mit seinen Kollegen Thomas Asikis und Nino Antulov-Fantulin von der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETH) hat Böttcher ein Steuerungssystem entwickelt, das auf künstlicher Intelligenz basiert - ein neuronales Netz, das darauf hinarbeitet, Systeme auf optimale Weise zu steuern, ohne die optimale Lösung zu kennen. Das System trägt in Anlehnung an einen der Urväter den Namen Artificial Intelligence (AI) Pontrjagin und lernt automatisch, wenn es mit Daten gefüttert wird.
"Die Steuerungssysteme der Lieferketten und der einer Mondfähre unterscheiden sich nur in der Praxis. In beiden Fällen haben wir einen Anfangszustand, einen gewünschten Endzustand und jeweils gewisse Randbedingungen, die den Weg zwischen Anfang und Ende beeinflussen", sagt Böttcher. Die Aufgabe der künstlichen Intelligenz sei es nun, den optimalen Pfad zwischen Anfang und Ende unter den gegebenen Umständen zu ermitteln.
Können Algorithmen auch eine Pandemie vorhersehen?
Übersetzt in das operative Geschäft eines Unternehmens bedeutet das, sie müssen Informationen über die Anzahl möglicher Lieferanten, die Bestellkosten und die Durchlaufzeiten nutzen, um Lieferketten so gestalten zu können, dass diese den gewünschten Endzustand erreichen, zum Beispiel die Auffüllung des Lagerbestands bis zu einem bestimmten Niveau unter Verwendung einer minimalen Menge von Ressourcen.
Die Entwicklung von Böttcher und dessen Kollegen bewegen sich im Bereich der Grundlagenforschung. Noch gibt es keine Software, mit der Unternehmen sie tatsächlich auch anwenden können. Doch es ist wohl nur eine Frage der Zeit, wann neuronale Netze in die Lieferketten eindringen. Der Medizintechnik-Produzent Philipp Kirsch aus dem badischen Willstätt beispielsweise beobachtet die Entwicklungen sehr genau. "Ich bin überzeugt, dass Algorithmen funktionieren. Allerdings müssen wir als Unternehmen abwarten, bis Systeme entwickelt werden, die für uns im operativen Geschäft geeignet sind", sagt Geschäftsführer Jochen Kopitzke.
Doch mit unvorhergesehenen Ereignissen wie einer Pandemie kann ein selbst lernendes System noch nicht umgehen. Solange die Unsicherheiten nicht berechenbar sind, sind falsche Entscheidungen der Steuerungs-KI nicht ausgeschlossen. Forscher Böttcher sagt: "Modelle können helfen, AI-Systeme auf gewisse Schreckensszenarien zu trainieren." Unternehmen bleiben aber gezwungen, sich für Eventualitäten zu wappnen, die der Idee einer Optimierung der Lieferkette widersprechen, zum Beispiel indem sie gegen den aktuellen Bedarf Bestände von Komponenten aufbauen.
In einigen Fällen sind schon Ersparnisse von bis zu 20 Prozent möglich
Philipp Kirsch nutzt stattdessen ein Business-Intelligence-System und eine ABC/XYZ-Analyse zur Steuerung der Materialbeschaffung. Beides sind gängige Methoden in der Industrie. Sie zeigen auf, welche Lieferanten und Artikel ein Unternehmen besonders im Auge behalten muss, um Engpässe zu vermeiden. Sprich: Komponenten und Zulieferer werden nach ihrer Bedeutung für den Produktionsprozess geordnet.
"Aber auch hier mischen Faktoren wie Corona die Karten völlig neu. Deswegen ist es in der Praxis von immenser Bedeutung, dass frühzeitig Indikatoren entwickelt werden, die Unvorhergesehenes signalisieren", sagt Kopitzke. Doch der Geschäftsführer ist zuversichtlich. Auch die Wetterprognosen seien in den vergangenen Jahren deutlich verbessert worden, indem immer mehr Daten einbezogen wurden. "Warum sollte das nicht auch bei den Lieferströmen gelingen?"
Der Anreiz für die Unternehmen, auf KI-basierte Steuerungssysteme zurückzugreifen, besteht in der Aussicht auf sinkende Kosten. Die Entwickler von AI Pontrjagin erzielten bei diversen Anwendungsversuchen unterschiedliche Ergebnisse. In einem Fall, der Bestellung von Mikroprozessoren, fielen Ersparnisse von lediglich drei bis fünf Prozent an. In anderen Fällen seien es bis zu 20 Prozent gewesen, sagt Böttcher. "Jeweils für den Fall der besten Heuristik", also unter Rahmenbedingungen mit begrenztem Wissen und einem bestimmten Zeitrahmen.
Das Potenzial der Ersparnis wird wohl entscheidend dafür sein, ob und wie schnell die Industrie KI-basierte Steuerungssysteme adaptieren wird. "Wenn es nur drei Prozent wären, dann wird die Integration für manche Unternehmen auch wirtschaftlich schwierig", sagt Philipp-Kirsch-Geschäftsführer Kopitzke. "Die Ersparnisse müssen größer sein, um sie der Industrie wirklich schmackhaft zu machen."