Klimaaktivisten:Es ist schon längst fünf nach zwölf

Klimaaktivisten: Aktivisten der Gruppierung "Letzte Generation" blockieren in Berlin eine Kreuzung.

Aktivisten der Gruppierung "Letzte Generation" blockieren in Berlin eine Kreuzung.

(Foto: Paul Zinken/dpa)

Viele Autofahrer beschweren sich über Staus - verursacht durch die Aktionen der "Letzten Generation". Der Kritik müsste sich laut SZ-Leserinnen und -Lesern jemand anders stellen.

"Mit dem Mut der Verzweiflung" vom 22. April, "Lasst den Wecker klingeln" und "Alles, was Recht ist" beide vom 21. April, "Am Kipppunkt" vom 14. April:

Unsere Köpfe im Sand

Christoph Koopmann äußert Verständnis dafür, dass große Teile unserer Gesellschaft die Aktionen der "Letzten Generation" ablehnen. Richtig wäre es, demokratische Mehrheiten zu organisieren, meint er. Genauso gut könnte man versuchen, demokratische Mehrheiten gegen Zuckerkonsum oder Alkohol zu organisieren.

Wir alle sind karbonabhängig, und zwar durchaus im Sinne einer physischen Abhängigkeit. Viel zu wenige sind bereit, ihr Verhalten einschneidend zu ändern, also beispielsweise die Raumtemperatur herunterzuregeln oder ihr Auto stehen zu lassen. Stattdessen schaut der eine auf den anderen, möge der doch bei sich anfangen. Und steckt seinen Kopf in den Sand.

Zielführend und sozial ausgewogen wäre ein Gesetz, welches jedem Bürger ein Jahres-Karbon-Kontingent zugesteht, und zwar unabhängig von dessen persönlicher Finanzkraft. Heizenergie, Sprit, Flugreisen, alles gedeckelt pro Kopf. Dieses Kontingent schmölze über die Jahre ab bis auf Null-Klimaneutralität.

Ja, der Reiche mit 500 PS und Swimmingpool würde mit dem Durchschnittsausstoß von elf Jahrestonnen CO₂ auf viele Annehmlichkeiten verzichten müssen, während der Bewohner eines Studentenappartements in den ersten Jahren keine Einschränkungen hinzunehmen hätte. Aber ich wette, dass Letzterer freiwillig mitmachen würde. Denn wenn der Fisch ausnahmsweise mal nicht an seinem Kopf zuerst stänke, schmeckte er sehr vielen.

Solange wir solch ein Gesetz nicht erlassen, dürfen wir den Jungen wohl erlauben, uns ihre Verzweiflung darüber auf Straßenkreuzungen zu demonstrieren. Da heben wir wenigstens mal unsere Köpfe für einen Moment aus dem Sand.

Dr. Lars Meinhardt, Wardenburg

Kein Stau ist gottgegeben

Der Artikel richtet sich gegen die Falschen. Die Klimaaktivisten sind diejenigen, die dafür sorgen, dass das Thema im Bewusstsein bleibt. Danke! Mehr können sie nicht tun, da sie ja keine konkreten politischen Maßnahmen durchführen können. Deshalb ist das im Kommentar geforderte Organisieren von Mehrheiten zu Recht nicht ihr Ziel; die vernünftigen Mehrheiten gibt es längst, aber es ist die Politik, die sich über sie hinwegsetzt.

Kein Stau ist gottgegeben. Man regt sich auf über die wenigen Staus, die durch die Aktivisten verursacht werden. Der Skandal aber besteht in den vielen täglichen Staus, den Verkehrstoten, der Luftverschmutzung und dem CO₂-Ausstoß, die das vorhersehbare und geduldete Produkt einer seit Jahrzehnten fehlgeleiteten Verkehrspolitik sind. Das Schildermangel-Argument des Verkehrsministers in der Diskussion um ein Tempolimit ist eine Kampfansage an jeden Rest von verkehrspolitischer Ratio, und der Kanzler lässt ihn gewähren. Nicht die Klimaaktivisten spalten, die Politik tut es, indem sie wider besseres Wissen untätig bleibt.

Bertold Breig, Friedberg

Berechtigte Verzweiflung

Es ist so wichtig, dass immer wieder darauf hingewiesen wird, dass uns keine Zeit mehr bleibt, dass wir viel konsequenter Maßnahmen zum Schutz des Klimas ergreifen müssen, als es der Fall ist. Jedes Hinausschieben, jeder Kompromiss macht die Welt für die jetzt junge Generation unbewohnbarer. Hätte man vor zwanzig Jahren alle die Maßnahmen ergriffen, die man jetzt endlich wenigstens in Erwägung zieht, wäre noch viel zu retten gewesen. Schon damals habe ich mir die Finger wundgeschrieben, die Fakten lagen ja auf dem Tisch, es wollte leider niemand lesen und handeln.

Die Verzweiflung der zumeist jungen Menschen ist mehr als verständlich, mich wundert, dass sie den Generationen, die es verbockt haben, nicht noch mehr Vorwürfe machen. Absolut unverschämt finde ich das Verhalten der Leute, die den Klimabewegten mit dem Auto über die Füße fahren oder sie ohrfeigen und von der Fahrbahn gewaltsam wegzerren. Dafür wäre Gefängnis angebracht und nicht für die Protestierenden, die gar keine andere Wahl mehr haben, als sich vehement zur Wehr zu setzen!

Gabriele Rohlfes, Tübingen

Anliegen der Schwächeren

Gerade weil ich mit den Anliegen der "Letzten Generation" sympathisiere und die Dringlichkeit ähnlich sehe wie sie, bin ich Ronen Steinke dankbar dafür dass er die Aktionen unter dem Aspekt des staatlichen Gewaltmonopols betrachtet. Vor allem Linke, die traditionell die Anliegen der Schwächeren vertreten, sollten die Bedeutung dieses Monopols erkennen: Es schützt jene, die nicht die Möglichkeit haben, ihre Interessen selbst durchzusetzen - mit Status, Geld, Einfluss oder Gewalt. Die Alternative zum staatlichen Gewaltmonopol ist das Recht des Stärkeren. Und wenn die Stärkeren definieren dürfen, was getan werden muss, kommt dabei allenfalls zufällig etwas heraus, das der gesamten Gesellschaft oder gar zukünftigen Generationen nützt.

Dr. Oliver Thomas Domzalski, Hamburg

Gallisches Dorf

Es ist eine altbekannte Dynamik, dass der Protest gegen die Obrigkeit, schlimmer noch, gegen die bräsige Bequemlichkeit der Mehrheit, zum Versuch der Täter-Opfer-Umkehr führt. Die Verbrecher, so die Annahme, sind die Straßenkleber. Dabei wird fast täglich vorgeführt, wie das kleine gallische Dorf der FDP mit Herrn Lindner als Asterix, Herrn Wissing als Idefix, flankiert von den Obelixen der Bild-Zeitung und scheindemokratischer Meinungsumfragen die öffentliche Meinung manipulieren. Es gibt niemand mehr, der ernsthaft den Klimawandel infrage stellen kann. Und ja, es ist Anstrengung nötig. Nur die politischen Machtkämpfe lenken ab.

Kai Hansen, Nürtingen

Erde droht zu kippen

Zunächst bin ich mir sehr sicher, dass den Aktivisten der "Letzten Generation" ein gesellschaftlicher Kipppunkt komplett egal ist, denn alleine der Klimakipppunkt zählt. Außerdem ist es meines Erachtens vollkommen sinnlos, auf einen gesellschaftlichen Konsens zu warten (nachdem die Wissenschaft sich einig ist), denn beispielsweise wurde bei dem Thema Atomkraft trotz klarer Fakten in über 60 Jahren in Deutschland (geschweige denn weltweit) kein Konsens gefunden - wieso sollte es beim Klima anders sein? Ich befürchte eher, dass die sich entfaltende Klimakatastrophe alle Erdbewohner vor sich hertreiben wird, egal, wie man dazu steht.

Erich Würth, München

Vollkommen zu Recht

Schade, dass mit keinem Wort erwähnt wird, dass Regierung und Politiker gegen unsere Gesetze verstoßen, indem sie zu wenig für den Klimaschutz tun, was sogar das BVG in einem Urteil festgestellt hat. Daher verstehe ich die Klimaaktivisten, deren Hauptforderung es ja ist, dass die Regierung ihren internationalen Verpflichtungen, dem Klimaabkommen von Paris 2015, nachkommt und die im Klimagesetz vorgeschriebenen Ziele anstrebt. Es ist also nicht nur eine gefühlte moralische Überlegenheit, sondern eine tatsächliche. Insbesondere der Verkehrssektor hat seine Vorgaben verfehlt. Was bleibt den zukünftigen Generationen noch übrig, als sich lautstark und zum Glück bisher friedlich für eine lebenswerte Zukunft einzusetzen? Eigentlich müssten die Politiker vor Gericht zur Verantwortung gezogen werden, die völlig versagen.

Michael Beck, Wolfenbüttel

Aufgestaute Wut

Die aufgestaute Wut der Autofahrer durch regelmäßigen Stau fand bisher kein Ziel. Die Verantwortlichen für Baustellen, der tägliche Stau in den Großstädten und auf Autobahnen, die vielen Staus durch Fahrfehler. Alles anonym und nicht greifbar. Die "Letzte Generation" ist präsent. Groß im Bild werden die Teilnehmer von der Polizei abgeführt, und immer wieder werden Bilder gezeigt. Jetzt hat der Autofahrer sein konkretes "Feindbild" und kann seinem aufgestauten Frust und seinem Ärger freien Lauf lassen.

Jürgen Schmücker, München

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