Gasembargo:Die Rufe nach einer Öffnung von Nord Stream 2 werden lauter

Drohende Nachteile durch zu wenig Gas lassen manch einen SZ-Leser seine Meinung zu den Sanktionen gegenüber Russland ändern.

"Putins teuflischer Plan" vom 22. August:

Abhängigkeit mehr verteilt

Eine Öffnung von Nord Stream 2 würde Putin eine Ausrede für zu niedrige Gaslieferung nehmen. Hier kann man keine reparaturbedürftigen Leitungen anführen, was eine Reduktion der Gasmenge nicht ausschließt, aber propagandistisch erschwert. Soweit ich die Sache verstanden habe, würde sich durch eine Öffnung für die Abhängigkeit oder Unabhängigkeit von Russland nichts ändern. Die Abhängigkeit wird einfach auf mehr Leitungen verteilt.

Vielleicht denkt die deutsche Politik und wohl auch Michael Bauchmüller eher symbolisch als strategisch. Sollten dank Nord Stream 2 die Speicher doch noch für den Winter aufgefüllt werden, würde es für Putin schwerer. Wie beim Schach kann man auch hier nur Züge ausprobieren. Warum sieht Bauchmüller allein den "Wohlstand" gefährdet und nicht die lebensnotwendigen Bedürfnisse? Weil in Deutschland seit Jahrzehnten dieses Denken funktioniert hat? Nach dem Motto: Wenn es mal schlechter läuft, verzichten wir auf ein bisschen Luxus und das Problem ist gelöst? Gerade für Privathäuser gilt: Man kann die Kunden nicht ein bisschen von außen einschränken. Ganz oder gar nicht.

Henning Fritsches, Rothenburg

Geschlossenheit ist die stärkste Waffe

Dass die zweite Röhre so ruhig, friedlich und still vor sich hindämmert, ist in der Tat ein starkes Bollwerk gegen Verrat, ein Mahnmal gegen die Despotie, ein Denkmal für die Demokratie und ihre Werte. Wenn die zweite Röhre in Betrieb genommen würde, könnte Putin ja auch dort den Gashahn zudrehen!

Dank solcher tiefen Erkenntnisse von Menschen wie Michael Bauchmüller, die aus innerster Überzeugung wissen, dass die Sanktionen nicht nachträglich ausgehöhlt werden dürfen, denn die Geschlossenheit ist die stärkste Waffe des Westens, wird es nicht dazu kommen, dass Putins teuflischer Plan aufgeht, selbst wenn es schmerzhaft, teuer und kühl für uns wird. Menschen wie der Kommentator mit seinen nach allen Seiten gerechten und hoch intelligenten Ansichten sorgen dafür, dass Putin die Deutschen nicht länger quälen kann, er seinen Triumph nicht bekommt, Deutschland zum Vasallen Russlands herabzusenken, selbst wenn ein namhafter deutscher aktiver Politiker Putins Verlockungen erliegt und sich zum Handlanger des Kremls macht.

Prof. Dr. Rüdiger Scholz, Freiburg

Entlastung durch Nord Stream 2

Michael Bauchmüller greift tief in die Tasten: Die Öffnung von Nord Stream 2 wäre "Verrat", damit würden wir zum "Vasall Moskaus". Wie wäre es mit etwas weniger Agitation, dafür etwas mehr wirtschaftliche Argumentation: Der Stopp von Nord Stream 2 sollte Putin die Kriegsfinanzierung entziehen - fand ich im Frühjahr sehr plausibel. Nur hat es leider nicht geklappt: Die Überschüsse des russischen Staatshaushalts sind satter als vor dem Krieg, die Geschäfte mit Indien und China laufen offenbar blendend, Putin braucht unser Geld nicht. Und wer auch nur ein minimales Verständnis der Energiemärkte hat, weiß: Schon die Ankündigung einer Öffnung von Nord Stream 2 würde in der EU die Gaspreise tief in den Keller schicken. Keine Gasumlage nötig, keine Mehrwertsteuersenkung, keine Entlastungspakete. Milliarden frei für die Förderung neuer Energien und für eine Strategie der energiepolitischen Unabhängigkeit. Okay, das amerikanische Fracking-LNG-Gas würde unverkäuflich, weil dann viel zu teuer, awfully sorry.

Auswirkungen einer Öffnung von Nord Stream 2 auf den Ukraine-Krieg: keine. Auswirkungen auf deutsche Unternehmen und Haushalte: substanzielle Entlastung. Jetzt mal ernsthaft, Herr Bauchmüller, wäre das "Verrat" an Deutschland? Kubicki als "Vasall Moskaus"? Guter Comedy-Lacher. Nein, er ist vielmehr ein Politiker, der in der Krise nicht das Gehirn ausschaltet, wie viele andere. Chapeau, Herr Kubicki, Sie haben völlig recht.

Dr. Ralph Bürk, Engen

Waffenembargos sollten genügen

Bei aller berechtigter Aufregung über Politiker, die bei ihren Überlegungen betreffend Gaslieferungen selbst "Undenkbares" andenken, tritt die Diskussion über die mit den Sanktionen tatsächlich erreichten Ziele völlig in den Hintergrund. Wen treffen die Embargos, mit denen wir die Welt gerade auseinanderdividieren, wirklich? Wer sind die eigentlichen Profiteure dieser Maßnahmen?

Zum einen sind es Rechte und andere Radikale. Da spielt es keine Rolle, ob die Menschen, die ihre demokratischen Wunschvorstellungen und Ideale zurzeit infrage stellen, im Westen oder im Osten, in Europa oder in Afrika leben. Bei verschiedenen, beruflich bedingten, längeren Aufenthalten in von Sanktionen betroffenen Ländern konnte ich feststellen, dass es häufig gerade die Mittelschicht ist, die durch Warenverknappung und Isolation zu verarmen beginnt. Die Hoffnung der demokratisch gesinnten Initiatoren der Embargos, dass sich diese Menschen dann in ihrer Not gegen ihre Regime wenden, ist eine trügerische Schlussfolgerung. Es gibt kein Beispiel, in dem es als Folge von Sanktionen zu einem Regimewechsel oder zu mehr Demokratie kam. Das Gegenteil ist der Fall. Durch Abbruch von Beziehungen und Warenströmen, wird es den Machthabern leicht gemacht, sich unkontrolliert zu bereichern und ihre eigene Propaganda und Weltanschauung als die alleinige Wahrheit darzustellen.

Was wollen wir damit erreichen, wenn wir zum Beispiel beginnen, russischen Touristen Visa zu verweigern? Die Jahrzehnte eines Eisernen Vorhangs mitten durch Europa sollten Warnung genug sein. Wir müssen uns von der Illusion lösen, dass wir mit der "Bestrafung" ganzer Länder und ihrer Bevölkerung etwas positiv verändern können. Es trifft fast ausschließlich die Falschen, die gerade in diktatorischen Systemen am wenigsten für die Politik ihrer Herrscher verantwortlich sind. Waffenrelevante Embargos sollten genügen.

Rüdiger Lorenz, Icking

Zur Einigkeit stehen

Dass Putin Deutschland das Gas abdreht, war erwartbar und stellt die Gesellschaft nun vor große Herausforderungen. Man sollte sich aber offen eingestehen, dass ein Ende der Energieimporte auch gewünscht wurde. Seit März fordert die ukrainische Regierung, von den osteuropäischen Staaten unterstützt, ein weltweites Energieembargo mit dem Argument, ohne Handel hätte Russland kein Geld für diesen Krieg. Diese Forderung wurde von deutschen Politikern wie Ex-Präsident Joachim Gauck in Talk-Shows ("Frieren für den Frieden") und vielen Prominenten in einem offenen Brief übernommen. Einschränkungen für die Industrie und der Anstieg der Energiepreise seien es wert, wenn es um Freiheit und Sicherheit der Menschen in der Ukraine gehe. Auch führende Ökonomen und Wirtschaftsweise hielten einen Lieferstopp für handhabbar. So etwa Professor Veronika Grimm von der Universität Nürnberg-Erlangen. Ein Energie-Embargo würde nur 0,5 bis 3 Prozent Wachstum kosten, prophezeite Professor Moritz Schularick im April.

Bundeskanzler Olaf Scholz, der bei Anne Will Zweifel an diesen Berechnungen äußerte, wurde vom SZ-Wirtschaftsredakteur Marc Beise Ende März heftig kritisiert. Seine Arroganz sei gefährlich. In der veröffentlichten Meinung herrschte dazu bisher weitgehend Einigkeit. Zu dieser Haltung, die ja gesinnungsethisch auch begründet ist, sollte man jetzt aber stehen. Auf Dämonisierungen, die nur weiter eskalieren, kann man da wohl verzichten.

Susanne Bauer, Gessertshausen

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