Sprachlabor:Die Kraft der Umgangssprache

Sprachlabor: undefined

Auf den ersten Blick ist es wohl nicht erkennbar, aber Schraubenzieher und Atomkraftwerk haben etwas gemein. Terra und tera dagegen nicht - außer vielleicht vier Buchstaben.

Von Hermann Unterstöger

IN KERNKRAFTWERKEN werden, wie unser Leser V. schreibt, "keine Atome gespalten", und deswegen sollten wir auch davon Abstand nehmen, sie Atomkraftwerke zu nennen. So gern wir das täten, so mächtig ist die Umgangssprache. Sie favorisiert seit jeher den Begriff Atomkraftwerk, und das vermutlich deshalb, weil den Laien zwar bewusst ist, dass in Kernkraftwerken zum Zweck der Energiegewinnung Atomkerne gespalten werden, sie aber glauben, dass man, um zum Kern zu gelangen, erst das Atom spalten müsse. Allem Anschein nach verhält es sich mit dem Kernkraftwerk wie mit dem Schraubendreher. Obwohl beide die korrekten Bezeichnungen sind, haben sie gegen das Atomkraftwerk und den Schraubenzieher einen schweren Stand.

EINEN RÜFFEL hat unser Leser Dr. S. für die Wirtschaftsredaktion. Zu der häufig unterlaufenden Falschschreibung Terrawatt statt Terawatt sagt er, terra (lateinisch für Erde) habe überhaupt nichts "mit dem korrekten Präfix tera (griech.) zu tun", das für die Größe 10¹² stehe, also für eine Billion. Bleibt zu ergänzen, dass tera zwar im Deutschen als Präfix fungiert, im Griechischen aber ein Substantiv als Basis hat: téras (Wunderzeichen, Ungeheuer, unbegreifliche Sache).

DIE FORMULIERUNG "... einen, der ihn nie hat fallen lassen" irritiert Leser W. "Müsste es nicht heißen fallen gelassen?", fragt er, und wir antworten: Müsste es nicht. Der Grund dafür nennt sich "Ersatzinfinitiv statt 2. Partizip", ein bei bestimmten Verben erlaubtes und im gehobenen Stil gängiges Verfahren, das Sätze wie diese hervorbringt: Er hat kommen müssen, er hat nicht haben kommen können, wir haben ihn singen hören.

REICHT DAS AUS, um mit unserem Feuilleton von einer "verwurzten Syntax" zu sprechen? Wohl kaum, und das Wort verwurzen ist sicher nicht nur Leser V. fremd vorgekommen. Grimm führt es nicht, dafür verzwunzen, was so viel wie geziert bedeutet.

Hermann Unterstöger

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: