Süddeutsche Zeitung

Leserbriefe:Soll ein Freispruch kassiert werden können?

Ein neues Gesetz tritt in Kraft, wonach ein Freispruch bei Mord nur noch unter Vorbehalt gilt. Diese Entscheidung beeinflusst das Rechtsempfinden der SZ-Leser.

Zum Kommentar "Dauerverdacht" vom 22. Januar:

Nur der Täter muss fürchten

Ein neues Gesetz ist in Kraft, wonach ein Freispruch bei Mord nur noch unter Vorbehalt gilt. Wenn es neue Beweismittel gibt, soll der Verdächtigte noch einmal einem Strafprozess unterzogen werden. Es gilt nicht mehr das "ne bis in idem", dass man kein zweites Mal vor ein Strafgericht gestellt werden darf. Heribert Prantl bezeichnet dieses Gesetz der alten Regierung, das der Bundespräsident nur unter Protest unterschrieben hat, als rechtsstaatlich unerträglich. Es ist für mich gesellschaftlich genauso unerträglich, wenn Justizirrtümer ungesühnt bleiben, wenn also schwer Verdächtigte freigesprochen werden, nur weil schwere Ermittlungsfehler begangen wurden, oft auch wegen der Ignoranz von Behörden.

Ein unter Vorbehalt Unschuldiger hat im Grunde genommen zeit seines Lebens nichts zu befürchten, aber der unter Vorbehalt freigesprochene wahre Täter muss sein Leben lang befürchten, dass er doch noch überführt wird. Das ist es doch wert, dass das abgeänderte Gesetz nicht doch noch kassiert wird. Das würde meinem Rechtsempfinden widersprechen.

Dr. Manfred Gigler, München

Prozess als Perpetuum mobile

Schon die Bezeichnung des Gesetzes zur Herstellung materieller Gerechtigkeit ist nicht nur seltsam, sondern anmaßend. Vor allem aber ist der Inhalt für mich als Prozessualisten unannehmbar. Jetzt gibt es einen Prozess ohne Rechtskraft - zwar formell beendet, aber es besteht weiterhin ein Schwebezustand. Treffend hat dies der Bundespräsident formuliert; Herr Prantl schließt sich ihm an und sagt mit Recht: Der Freigesprochene bleibt ein Dauerbeschuldigter.

Wenn das Gesetz bestehen bleiben sollte, wird es dann auch unweigerlich Auswirkungen auf die Prozesse wegen Mordes und der anderen Kapitaldelikte haben, und zwar nach dem Motto: Warum tief in die Beweisaufnahme steigen? Soll doch erst einmal der Angeklagte freigesprochen werden. Im nächsten Anlauf, in einem neuen Prozess, kann er ja überführt werden. Der Strafprozess als Perpetuum mobile und kein "ne bis in idem".

Prof. Dr. Ekkehard Schumann, Regensburg

Wiederaufnahme gibt es bereits

Wenn ein Jurist "Grundsätzliches" zu bedenken gibt, versteht sich dies meist so, dass Ausnahmen möglich sind. In dem kritischen Meinungsartikel von Herrn Prantl, in dem er wegen eines neuen Gesetzes einen "Dauerverdacht" bei unverjährbaren Verbrechen befürchtet, verweist er zu Recht auf den im Grundgesetz verankerten Grundsatz, dass niemand wegen derselben Tat mehrmals belangt werden darf.

Er erwähnt jedoch nicht den bereits geregelten Ausnahmefall, dass gemäß § 362 Nr. 4 der Strafprozessordnung die Wiederaufnahme eines abgeschlossenen Verfahrens zulasten des Freigesprochenen zulässig ist, wenn dieser nach dem Freispruch ein "glaubwürdiges Geständnis" ablegt. Dieses bedarf im Wiederaufnahmeverfahren einer gerichtlichen Beweiswürdigung. Der Gesetzgeber möchte jedoch berücksichtigt haben, dass das Bestehenlassen eines fragwürdig gewordenen Freispruchs dem Gerechtigkeitsempfinden der Menschen zutiefst widerspricht.

Der Glaubwürdigkeit eines Geständnisses nach einem Freispruch steht die wissenschaftlich begründete Glaubwürdigkeit einer DNA-Analyse oder die der beweiskräftigen Ermittlungen in der digitalen Forensik nach heutigem Standard nicht nach.

Unter diesen Voraussetzungen berücksichtigt das neue Gesetz, dass die Aufrechterhaltung eines widerlegbaren Freispruchs dem Gerechtigkeitsempfinden der Menschen genauso zutiefst widerspricht wie bei einem nachträglichen Geständnis.

Das neue Gesetz (§ 362 Nr. 5 StPO) zieht eine Wiederaufnahme des Verfahrens nur dann in Betracht, wenn bei Anklage wegen Mordes, Völkermords, Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit der Freigesprochene hätte verurteilt werden müssen, wenn die zum Zeitpunkt des Verfahrens gegebenen Beweismittel nach neuesten Auswertungsmethoden den Tatnachweis erbracht hätten. Auch wenn verfassungsrechtliche Bedenken nicht von der Hand zu weisen sind, erscheint mir die Annahme von Herrn Prantl, das neue Gesetz komme dem Populismus entgegen oder willfahre gar dem unsäglichen "Volksempfinden", als zu polemisch.

Dr. Lando Lotter, Höchberg bei Würzburg

Furcht vor entfesselter Bürokratie

Auch mir verursacht diese Gesetzesänderung Bauchschmerzen. Außer den von Heribert Prantl bereits äußerst prägnant beschriebenen Gründen, gibt es für mich noch zwei weitere Aspekte: Die bis letztes Jahr geltende Gesetzgebung zwingt Strafverfolgungsbehörden zu äußerster Gründlichkeit und größtmöglichem Einsatz, um eine Anklage einzureichen, denn es gibt nur diese eine Möglichkeit.

Auf der anderen Seite schützt dies die Bürgerinnen und Bürger vor vorschnellen Anklagen aufgrund unzureichender Ermittlungen. Was aber hindert die Behörden in Zukunft, aufgrund von vielleicht fehlenden Kapazitäten vorab Anklage zu erheben? Es gäbe ja immerhin noch die Möglichkeit, weitere Verfahren nach einem Freispruch anzustrengen. Was vielleicht jetzt noch utopisch klingt und mit dem Arbeitsethos vieler Juristen sicherlich unvereinbar, rückt dann zumindest näher. Ein zweiter Punkt wäre der Schutz der Bürgerinnen und Bürger vor einer sich verrennenden Bürokratie, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, entgegen erfolgtem Gerichtsurteil weiter zu ermitteln. Sicher ist es schwer erträglich, wenn sich ein Straftäter erst im Nachhinein als schuldig erweist. Unerträglich fände ich es aber, als Bürger einer völlig entfesselten Bürokratie gegenüberzustehen.

Björn Rech, Wetzlar

Was ist unerträglicher?

Das neue Gesetz könnte Anwendung finden auf einen Mord, ein "grausiges Verbrechen", aus dem Jahr 1981 an einer jungen Frau. Der Täter wurde damals aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Jetzt scheinen neue wissenschaftliche Methoden zu beweisen, dass der Freigesprochene doch der Täter war. "Es ist dies in der Tat ein unerträglicher Fall", so Heribert Prantl. Wesentlich unerträglicher findet er in seinem Kommentar allerdings, dass der Täter aufgrund des neuen Gesetzes trotz des damaligen Freispruchs nochmals angeklagt werden könnte. Ein verharmlosendes Stilmittel von Heribert Prantl ist es, die Fälle möglichst abstrakt zu beschreiben: "grausiges Verbrechen".

Ich möchte konkret werden. Angenommen, die Grausamkeit am Mord an der 17-Jährigen wäre gewesen, dass der Täter die noch lebende junge Frau in eine Kiste gesperrt und diese dann vergraben hat, worauf sie elendiglich erstickt ist. Was ist jetzt unerträglicher? Die Tatsache, dass der Täter nun doch für seine Tat zur Rechenschaft gezogen wird oder dass er weiterhin auf freiem Fuß bleibt?

Hans-Wolfgang Löscher, Forchheim

Täter zur Rechenschaft ziehen

Es geht doch nur um die Fälle, wo die Tatbeteiligung mit sehr großer Wahrscheinlichkeit gegeben ist, nur nicht mit letzter Sicherheit bewiesen werden kann. Es wird der Fall einer 17-jährigen Schülerin erwähnt, die 1981 ermordet wurde. Die Tat konnte einem damals Tatverdächtigen nicht mit der unbedingt erforderlichen Sicherheit nachgewiesen werden. So wurde er freigesprochen. Nun aber, nach so vielen Jahren, ist es technisch möglich, ihn als Täter zu überführen. Wäre es dann nicht unerträglich, diesen Täter nicht zur Rechenschaft zu ziehen? Das möchte ich der Familie der Schülerin nicht erklären müssen.

Auch ich bin der Meinung, dass der Staat unumstößliche Regeln braucht. Eine davon ist: Wenn jemand so schwere Schuld wie Mord auf sich geladen hat und es ihm nachgewiesen werden kann, wird er dafür bestraft - wann auch immer. Nicht umsonst gibt es für diese schweren Straftaten keine Verjährungsfristen.

Einer Meinung bin ich mit dem Verfasser, dass veränderte oder zusätzliche Zeugenaussagen verspätet nicht zur Aufhebung eines Urteils führen sollten. Erinnerungen verblassen oder verändern sich. Das wäre keine gute Grundlage für ein neues Urteil.

Werner Ocken, Geestland

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Quelle:
SZ vom 10.02.2022
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