Süddeutsche Zeitung

Silvester 2022:Die Krawallnacht

Die einen rufen nach harten Strafen für die Randalierer, die anderen fragen nach dem Warum der Gewaltexzesse und ob das Böllern noch zeitgemäß ist.

"Aggression der Ausgegrenzten" vom 4. Januar, "Kampf um Status" vom 7./8. Januar, "Was hab ich euch getan?" und "Faeser spricht von 'Verrohung'" vom 3. Januar, "Wenn die Retter sich selbst retten müssen" und "Jenseits aller Grenzen" , beide vom 2. Januar:

Die Freiheit des Böllerns

Es ist Anfang Januar. Menschen liegen im Krankenhaus. Menschen, die einfach nur ein katastrophales Jahr abschließen wollten und von einem Mob der Tobsucht erfasst wurden. Die Silvesternacht, in der alleine in Berlin 40 Angriffe auf Rettungskräfte stattgefunden haben. Die Nacht, in der sich betrunkene Idioten Straßenschlachten mit waffenfähigen Raketen für 11,99 Euro lieferten.

Wir müssen darüber sprechen, wie viel wir bereit sind zu geben, um die "Freiheit" des Böllerns zu ermöglichen. Wie viele Leben ist uns ein Knall und buntes Glitzern in der Luft wert? Wie viele zerstörte Existenzen durch Großbrände wird eine halbe Stunde Spaß noch kosten? Wie lange nehmen wir noch Krebs und andere Krankheiten durch massive Feinstaubemissionen in Kauf, weil es "halt schon immer so war"? Sollten uns Dinge wie Sicherheit oder Gesundheit nicht wichtiger sein?

Luca Barakat, Marquartstein

Giffey sollte zurücktreten

Wenn die Krawallmacher an Silvester in Berlin laut Franziska Giffey "fast alles Berliner Kinder" waren, bitte ich sie, von ihrem Amt als Regierende Bürgermeisterin sofort zurückzutreten. Sie ist offensichtlich weder in der Lage noch willens, ihre "Landeskinder" in öffentlichen Belangen zu anständigen Bürgern zu erziehen. Sie sollte ihr Amt für eine bessere "Landesmutter" räumen!

Berthold Riese, Germering

Nur Abschreckung hilft

Wir als Gesellschaft haben es versäumt, die Jugendlichen aus aller Herren Länder zu sozialisieren, sie in die Arbeitswelt einzubinden. Das jedenfalls legt Constanze von Bullion nahe. Was also bleibt ihnen anderes übrig, als die Rettungskräfte zu attackieren, Barrikaden zu errichten und diese anzuzünden.

Wie aber wäre diese Sicht: Deutschland ist ein Land, das viele Millionen Menschen aus aller Welt aufgenommen hat. Unter anderem auch die Jugendlichen und deren Familien, die sich jetzt so übel gegen den Staat stellen. Es mag sein, dass nicht alle so integriert sind, wie man sich das wünscht. Aber dass sie keine Not im Sinne von Existenzangst leiden, dass sie ein ordentliches Leben führen können - meilenweit entfernt von dem, wovor sie geflohen sind, das sollte doch zählen. Und das sollte man diesen Menschen ins Gedächtnis rufen und nicht ständig ein "mea culpa" pflegen. Niemand verlangt von den Flüchtlingen ein tägliches Dankeschön für die Gastlichkeit hier, aber ein Verhalten, das der Gesellschaft, die ihnen Schutz und Auskommen gewährt, nicht ständig ins Gesicht schlägt. Die Kommentatorin verlangt zwar ein Durchgreifen der Justiz. Sie plädiert aber für einen milden Umgang mit den Delinquenten, weil wir an dem Dilemma schuld sind. Das ist falsch. Nur eine Strafe am oberen Ende der Rechtsetzung kann Nachahmer möglicherweise abschrecken.

Helmut Maier-Mannhart, Halfing

Gleiche Teilhabe

Als konservativ denkender, 83-jähriger Mensch war nach den Silvesterkrawallen in Neukölln, Hamburg und anderswo mein erster Gedanke: durchgreifen, durchgreifen, durchgreifen. Das wäre wohl auch mein letzter geblieben, hätte ich nicht Constanze von Bullions Kommentar gelesen. Ich wünsche mir, dass ihr Postulat - "es gilt, auf allen gesellschaftlichen Etagen demokratischen Gemeinsinn durchzusetzen, aber eben auch gleiche Teilhabe" - möglichst viele politische Entscheidungsträger erreicht und zum Handeln motiviert.

Peter C. Gussmann, Hamburg

Herablassende Behandlung

Gewalt gegen Feuerwehr, Sanitäter und Polizei wie auch gegen Sachen ist zu verurteilen. Man sollte sich aber mal in die Lebenswelt der "Krawallbrüder" und deren Umfeld hineindenken. Ein etwaiger Migrationshintergrund ist eher zweitrangig. In unseren Großstädten leben ganze Bevölkerungsgruppen in Abhängigkeit staatlicher und privater Leistungen. Anstelle einer selbstbestimmten Lebensführung werden sie in eine kafkaeske Spirale aus Anträgen und Behördengängen (Bürgergeld, Kindergeld, Unterhaltsvorschussleistungen, Wohngeld, Ausländerbehörde) und kaum verständlichen Mitwirkungspflichten geschickt. Anstelle von Perspektiven erfahren sie staatliches Handeln als Bedrohung und den Kontakt zu den Mitarbeitern als herablassend und arrogant. Hinzu kommt der entwürdigende Weg zur Tafel, einer Almoseneinrichtung, die inzwischen als Teil unseres Sozialsystems akzeptiert oder sogar gefördert wird.

Dass in dieser Lebenswelt eine Identifikation mit "unserem Staat" und seinen Einrichtungen kaum vorhanden ist, kann da ebenso wenig überraschen wie die Reaktionen hormonell gesteuerter adoleszenter Männer. Wir können nur froh sein, dass sich der Frust des abgehängten Teils der Bevölkerung bisher nur zu Silvester und in Berlin am 1. Mai entlädt. Man denke nur an die Jugendkrawalle in London 2011 oder, in schöner Regelmäßigkeit, in den französischen Banlieues.

Hans-Peter Sprenger, Voerde

Einmal Respekt bekommen

Ich frage mich, was Menschen dazu bringt, Rettungskräfte anzugreifen. Neben anderen Erklärungsansätzen denke ich, dass es Neid sein könnte, Neid auf eine leuchtende Uniform, Blaulichtfahrzeuge, Neid auf einen sinnvollen Job, Retter sein, zu den Guten gehören. Wer bei Feuerwehr, Polizei oder im Rettungsdienst arbeitet, wird gebraucht, im Normalfall mit Erleichterung begrüßt, kann also in seinem Tun Sinn finden. Der so leichthin weggeschobene Vorschlag eines verpflichtenden Gemeinschaftsdienstes könnte also eine Rolle spielen: einmal im Leben (möglichst früh) zu einem Team gehören, etwas Sinnvolles tun, Respekt bekommen. Vielleicht würde das einige davor schützen, sich unter Alkohol die eigene Perspektivlosigkeit wegzuböllern.

Wenn die heimische Feuerwerksbranche erhalten werden muss, warum nicht durch zentrale kommunale Feuerwerke bei gleichzeitigem Böllerverbot drumherum? Es könnte etwas anderes sein als aggressives Böllern und sich bei zunehmender ökologischer Vernunft allmählich aus den kulturellen Traditionen herausschleichen. Da aber die FDP mitregiert, ist zu befürchten, dass der Artenschutz für Böller, Raser und Atomkraftwerke weiter Bestand haben wird. Sie nennen es Freiheit.

Susanne Neuffer, Hamburg

Neue Migrationsdebatte

Ich gebe Constanze von Bullion nur zur Hälfte recht: Unser Land muss sich unbedingt um die kümmern, die kaum eine Chance haben, von sich aus dem Abgehängtsein und der Trostlosigkeit zu entfliehen. Es würde dem ganzen Land nützen. Seltsam nur, dass bei Plänen zu einer sozial ausgleichenden Umverteilung so viele Gesellschaftsgruppen aufschreien und Parteien, die sich um sozial Benachteiligte kümmern möchten, nicht gewählt werden, nicht mal von den Benachteiligten. Hier muss sich Gesellschaft und Politik so viel trauen, dass es manche schmerzen wird, denn freiwillig gibt niemand etwas von seinem Wohlstand ab, selbst wenn dieser auf großer Ungerechtigkeit basiert.

Trotzdem muss auch eine Migrationsdebatte erlaubt sein, ein kritisches Hinterfragen von Aspekten, die die Vorfälle in der Silvesternacht beeinflusst haben. Fragen wie: Tut uns Migration in so großem Ausmaß gut oder destabilisiert sie die Gesellschaft? Dürfen an Migranten nicht höhere Forderungen gestellt werden, sich zu integrieren, als bisher? Muss bei Geflüchteten Integration das Ziel sein, wenn sie nur vorübergehend im Land sind? In meinen Augen wird viel zu wenig zwischen den unterschiedlichen Gruppen (Einwanderern, Flüchtlingen, Asylsuchenden ...) differenziert, auch die Integrationswilligkeit spielt kaum eine Rolle. Die negativen Auswirkungen merkt man an Schulen im Umgang mit geflüchteten Ukrainern: Jugendliche, die davon ausgehen, dass sie bald zurückkehren werden, haben meist kein Interesse, Deutsch zu lernen; sie binden aber Lehrerstunden, die anderswo dringend gebraucht würden, was zum Nachteil aller anderen Schüler ist.

Holger Nachtigall, Sachsenried

Respekt vor dem Rechtsstaat

Die "Silvester-Krawalle" in Berlin und anderen deutschen Städten sind zutiefst besorgniserregend, aber leider auch das Spiegelbild unserer Gesellschaft. Gewalt und Aggression haben eine Dimension angenommen, die Angst und Bange machen und nicht nachvollziehbar sind. Selbst die Verantwortlichen aus der Politik sowie Polizeistrategen waren von der Brutalität überrascht und ihr hilflos ausgeliefert. Das ist ein Alarmsignal für unseren Rechtsstaat. Die Gewalttäter müssen so schnell wie möglich dingfest gemacht und mit der vollen Härte des Gesetzes bestraft, notfalls rigoros außer Landes verwiesen werden. Zudem muss mit der unkontrollierten Zuwanderung, der offensichtlich gescheiterten Asyl-/Migrationspolitik sowie der Kuscheljustiz Schluss sein. Wer in Deutschland leben will, muss sich wie jeder andere an Recht und Ordnung halten und den deutschen Rechtsstaat ohne Wenn und Aber respektieren. Andernfalls hat er hier keinen Platz.

Dietmar Helmers, Westerheim

Billige Effekthascherei

Wie nach jedem Gewaltexzess gibt es Rufe nach härteren Gesetzen, doch nach den Ursachen wird nur vereinzelt gefragt. Klar, Feuerwehrleute, Rettungsdienste und Polizisten dürfen kein Freiwild für randalierende Horden sein. Doch der Ruf nach schärferen Gesetzen ist lediglich der Versuch Konservativer, mit billiger Effekthascherei ihre Wahlchancen zu verbessern. Die geltenden Gesetze reichen aus, um dem Terror Einhalt zu gebieten. Nur müssen sie auch angewandt werden. Generalverdächtigungen gegen Menschen mit Migrationshintergrund vergiften nur das politische Klima und schaffen ausländerfeindliche Stimmung. Wichtig ist, durch qualifizierte Sozialarbeit jungen Menschen Perspektiven aufzuzeigen und so eine emotionale Zustimmung zum Rechtsstaat zu erzeugen. Ein Böllerverbot halte ich durchaus für sinnvoll. Um es zu kontrollieren, wird es darauf ankommen, genug Personal zur Verfügung zu stellen.

Manfred Kirsch, Neuwied

Dienst in der Notaufnahme

Die Knallerei ist ein zwiespältiges Vergnügen aus einer verflossenen Zeit. Dass sie immer mehr dazu genutzt wird, Frust abzulassen, Ignoranz und Widerstand gegen Grundordnungen zu zeigen, ist inakzeptabel. Außer dass man bestimmte Feuerwerke strenger verbieten sollte, wäre ein Weg, dingfest gemachte Übeltäter, neben der harten Bestrafung, Dienst machen zu lassen in Notaufnahmen, Krankenhäusern und Feuerwehren. Da fehlt es an allen Ecken ohnehin.

Kai Hansen, Nürtingen

Selbstbewusstes Nachdenken ist wichtig

Die empörenden Aggressionen waren unüberlegt und zielten auf die Falschen: Helfer greift man nicht an! Dennoch ist die gerechtfertigte Bestrafung nur eine ungenügende Reaktion. Nur durch mangelndes Nachdenken konnte zu Silvester aus der fröhlichen Begrüßung des Kommenden ein Ventil für die Rache an Vergangenem werden.

Die logischen Konsequenzen des ordnenden, fürsorglichen Staates müssen sich gegen die Wurzeln des Übels wenden: fehlende Schul- und Charakterbildung, auf Gewalt basierende Umgangsformen ("Recht des Stärkeren", wie in patriarchalischen Familienclans oder auf dem Schulhof), Missverstehen des Staates als bloßes Beherrschungs- und Ausbeutungssystem, nicht als hilfreiches Instrument zur Ordnung divergierender individueller Bedürfnisse im gesellschaftlichen Zusammenleben. Wenn die Randalierer die Vorteile eines funktionierenden Sozialstaats begreifen, werden sie dessen wohlmeinende Vertreter nicht mehr angreifen. Das kritische Nachfragen und selbstbewusste Nachdenken muss schon Kindern beigebracht werden, nicht das unterwürfige Gehorchen aus Furcht vor Strafe.

Dr. Dietrich W. Schmidt, Stuttgart

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