Zu „Der Mythos vom Reisen“ vom 31. August/1. September:
Reisen hat viele Facetten
Der von Ihnen beschriebene Reisende (arrogant, egoistisch, oberflächlich, von Werbung und Influencern geprägt) existiert sicherlich. Ebenso ist der „Overtourism“ ein großes Problem mit gravierenden Folgen für die einheimische Bevölkerung (teure Mieten, Lärm, Umweltschäden, Verlust der Privatsphäre). Lange Zeit haben aber touristisch geprägte Gemeinden diesen Ausverkauf von Natur und Kultur tatkräftig aus ökonomischen Gründen gefördert. Ein „Rückbau“ ist nun schwer.
Ich möchte mich nun aber wehren gegen Ihre Pauschalverurteilung der Reisenden/Touristen. Wer die Reisetagebücher von Alexander von Humboldt, Marco Polo und aktuell auch von Ihnen, Herr Prantl („Gebrauchsanweisung für Namibia“) gelesen hat, lernt viel über unsere Welt und bekommt vor allem Lust, die Vielfalt von Natur und Kultur selbst kennenzulernen. „Die beste Bildung findet ein gescheiter Mensch auf Reisen“, hat schon Goethe niedergeschrieben. Reisen bildet enorm. Ich habe auf all meinen Reisen viel gelernt. Zum Beispiel, dass die (echten) Sadhus sich von allem Weltlichen losgesagt haben. Sie sind Wandermönche, die in Armut leben. Die Begegnung mit ihnen lehrt einen Demut und Zurückhaltung (und man macht eben keine Fotos!).
Für mich ist jede Reise (egal ob nach Nah oder nach Fern) wirklich jeweils eine Seite in einem kostbaren Buch. Man kann durchaus reisen, ohne zu zerstören. Reisen ist ein Bildungsauftrag, den ich in meinem Berufsleben gern angenommen habe. Nur wer die Welt aus eigener Erfahrung kennt, versteht so richtig, wie man sich – Regeln einhaltend – in ihr bewegt.
Reisen verändert Meinungen und Vorurteile. Reisen ist inspirierend und erlebnisreich. Warum haben Sie all diese Facetten ausgelassen?
Katja Lehmann-Heuschneider, Puchheim
Positive Effekte
Der Artikel krankt an genau der fehlenden Stichhaltigkeit, die er den Argumenten von Reisefreunden vorwirft: Drei schlecht gemachte oder zumindest nicht valide Studien zu zitieren als Beleg dafür, dass man Zweifel an den positiven Effekten des Reisens haben kann, ist irreführend, denn es bedeutet ja weder, dass gute Studien keinen positiven Effekt nachweisen würden, noch, dass das Gegenteil der Fall wäre. Für seine eigenen Überzeugungen liefert der Autor ebenfalls keine Studie als Beleg, hierin erkennt er aber kein Problem. So viel zur Statistik.
Inhaltlich setzt er verschiedenen Zitaten seine Meinung gegenüber – warum sollte diese Einzelmeinung so relevant sein? Die Argumente hierfür sind pauschalierend, Reisen seien grundsätzlich hedonistisch, die „ohnehin Lernbegierigen“ reisten öfter (was andererseits mit dem erwähnten Phänomen des Massentourismus kontrastiert: Sind hier alle lernbegierig?), man erwarte Heilung für sich und die Welt.... als gebe es nicht die unterschiedlichsten Arten zu reisen, wie es auch unterschiedliche Wertvorstellungen und Lebensentwürfe gibt.
Wo hört das „Reisen“ eigentlich auf und wo fängt es an? Der Garten, der Park, das nächste Naturschutzgebiet, das nächste Meer, die Nachbarländer, Fernreisen: Für alle gilt, dass man „hinaus“ in die Welt geht, um etwas Neues zu sehen oder zu erleben, den Alltag zu verlassen. Dass dies guttut (sogar von welchem Zeitraum an sich positive Gesundheitseffekte einstellen, nämlich von circa 14 Tagen an), hat sogar die Barmer-Krankenkasse veröffentlicht, die passenden Studien ließen sich finden.
Somit wären wir beim letzten Punkt: Was soll Hedonismus bedeuten in diesem Zusammenhang („so viele Güter und Dienstleistungen wie möglich zu konsumieren“)? Konsum und Dienstleistungen sind abhängig von der Art des Reisens: Das Ferienhaus, das Wohnmobil, Gruppenreisen, Wanderurlaube, Fahrradtouren, Jugendherbergen und so weiter beinhalten zum Beispiel erhebliche Teile an eigener Energie, Organisation, Haushaltsführung. Warum ist Reisen hedonistischer als ein Hobby zu Hause, als Haustierhaltung, Lesen oder Gänseblümchen-Ansehen? „Entspannung, Zerstreuung, Bildungshunger und Neugierde“ könnte man auch umformulieren zu: „Wieder zu sich kommen“, „sich neu beleben“, „sich bilden“ (wird als Voraussetzung für mündige Bürger empfohlen und vom Staat gefördert) und „Offenheit gegenüber Fremdem und Fremden“ (gerade ganz pauschal zu empfehlen).
Ich würde so weit gehen zu behaupten, wenn Reisen nicht überfordert, wirkt es antidepressiv oder prophylaktisch gegenüber Depressionen. Die Studien reiche ich nach.
Sabine Euwens-Bähr, Münster
Rastlos, aber beliebig
Ein überaus wichtiger Artikel, vielen Dank! Die wichtigsten Reisen finden im Kopf statt, und hierauf bezieht sich auch der tiefere Sinn des Spruches „Reisen bildet“. Heute gibt es viele Reisende (im örtlichen Sinne), die gar nicht wissen, wo sie waren. Sie haben vielleicht im Internet herumgeklickt und haben, reingefallen auf gerissene Marketingexperten, etwas gefunden und gebucht, von dem es heißt, dass es dort echt geil sein soll, sind dann in irgendeiner Ferienparadies-Abzocke gelandet, sind dort ordentlich abgemolken worden und so weiter, und wenn man sie hinterher fragt, wo sie gewesen sind, dann hört man nur verlegenes Herumdrucksen. Afrika? Asien? Arabien? Oder war es Andalusien? – Egal, es war jedenfalls echt geil. Oder sie fahren mit dem (Pseudo-) Öko-Kreuzfahrtschiff pseudonachhaltig nach Spitzbergen und weiter bis zum Nordpol und empören sich unter ständiger Smartphone-Filmerei über den Rückgang des Eises. Die Liste ließe sich endlos fortsetzen.
Ich finde, ein Einsiedler in der Klause oder ein Mensch, der ruhig in seinem Zimmer sitzt und mit sich selbst was anzufangen weiß (Blaise Pascal lässt grüßen), kann mehr Bildung haben als einer, der pausenlos überall unterwegs ist und damit überall angibt.
Friedhelm Buchenhorst, Grafing
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