„Der feine Herr Reuß“ vom 5. Dezember:
Die „Autorität des alten Adels“ ist vor allem Zauberei der Rollenautorität; dieser trügerische Schein ist seit 1968 nichts mehr wert. Und generationenlange Herrschaft ist ein überwundenes Unterdrückungsübel der feudalistischen Vergangenheit. Der Staat gehört nicht dem Herrscher (l’état c’est moi – non!). Er ist eine öffentliche Sache für alle, eine res publica, die nur von jeweils auf Zeit gewählten Besten verwaltet und regiert werden darf. Diese Elite wird von der Mehrheit mündiger Bürger ausgewählt. Sie lassen sich nicht mehr von Erbdynastien und deren Repräsentanten beherrschen. Erbe ist kein Respekt erheischendes Verdienst. Die nicht verbrämte Geschichte liefert die Erklärung: Ein mittelalterliches Lehen (der Ursprung der meisten adeligen Ländereien) wurde verliehen, das heißt auf Zeit vergeben, um es sinnvoll im Dienste aller zu verwalten und zu beschützen gegen fremde Habgier.
Diese eigentlich vernünftige Staatsidee eines gewählten Königs mit verdienstvollen und deshalb ausgewählten Verwaltern („Hausmeiern“) war nicht von langer Dauer: An die Stelle der Wahl trat die Erbschaft. Viele belehnten Vasallen, beziehungsweise beuteten Raubritter das Land und seine Bewohner bald zum eigenen Vorteil aus. Ihre Kinder, an die sie den Besitz vererbten, hatten indes überhaupt keine Verdienste. Das einzige Unterscheidungsmerkmal dieser mehr oder weniger reich beschenkten Kinder zu anderen Kindern (denen kein Erbe zugefallen war) bestand darin, dass sie „von blauem Geblüt“ und meist verwöhnt waren. Sie sollten das Begonnene (allzu oft die Bereicherung an anderen) fortsetzen. So bildeten sich endlose Schlangen von Ausbeutern, die Stammbäume der sogenannten Dynastien. Die wenigsten dieser adligen Besitzer von Landstrichen haben „Menschen ernährt“. Das waren vielmehr die lange leibeigenen Bauern, so etwas wie Sklaven. Übrigens haben alle Menschen ohne Ausnahme Vorfahren, die „bis zu den Kreuzzügen“ zurückreichen, nur machen sie aus der Vergangenheit kein Brimborium.
Man lasse Herrn Reuß seine mögliche Fachautorität als Dipl.-Ing., denn dieses Zeugnis der Bildung hat er wohl durch eigene Leistung erworben. Aber der Rest ist Operette. Heute klingt es altertümlich oder servil, wenn man „Haus“ statt „Familie“ sagt. Die missbrauchte Vokabel weist auf Immobilienbesitz hin – und der scheint so etwas wie heilig zu sein, jedenfalls unantastbar (selbst für nicht adlige Häuslebesitzer). Die Realität auf den Immobilienmärkten allerdings ist ganz anders; man denke an die milliardenschweren Immobilien des Herrn Benko! Grundbesitz ist nicht für die Ewigkeit, Herr Reuß, oft nicht einmal lebenslang.
Dr. Dietrich W. Schmidt, Stuttgart
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