NS-Verbrecher:Verurteilung eines 101-Jährigen: Richtig oder falsch?

NS-Verbrecher: Das ehemalige Konzentrationslager Sachsenhausen, in dem der 101-Jährige Wachmann war.

Das ehemalige Konzentrationslager Sachsenhausen, in dem der 101-Jährige Wachmann war.

(Foto: Jürgen Ritter via www.imago-ima/imago images/Jürgen Ritter)

77 Jahre nach seinen Taten muss sich ein KZ-Wachmann vor Gericht verantworten. Die einen plädieren für Milde, andere glauben, die Suche nach Schuldigen bringe nichts - und dennoch kann es eine wichtige Geste sein.

"Spät. Zu spät" vom 2. Juli:

Justiz ist ungeeignet zu richten

Treffend schildert Heribert Prantl das Dilemma der Anwendung des Strafrechts auf Greise: Strafe erreicht 101-Jährige nicht mehr, Sühne greift nicht mehr, die Haft kann nicht mehr vollzogen werden. Das unter anderem wegen einer zögerlichen Justiz.

Doch warum sieht Prantl es nicht als mitleidlos und grausam an, wenn Greise "zum Urteil gerollt" werden? Kant hätte diesen Menschen wahrscheinlich gesagt, sie müssten dankbar sein, wenn ihnen zu Lebzeiten noch Gerechtigkeit widerfährt. Aber das ist doch nicht der Rechtsstaat, den unser Grundgesetz meint. Immerhin gibt es den Gedanken des "summum ius summa iniuria". Der noble Rechtsstaat zieht sich zurück, wo Menschen nur noch als Objekte einer Rechtspflege behandelt werden.

Die Justiz ist ohnehin wenig geeignet, Phänomene wie den Nationalsozialismus aufzuarbeiten, in den sie selbst tief verstrickt war. Lassen wir doch insoweit den Historikern und Soziologen freien Raum. Nicht die Suche nach den letzten Schuldigen ist Bedingung für eine Zukunft ohne nationalsozialistische Verirrungen, sondern Antworten auf die Frage, weshalb aus der Mitte unserer Gesellschaft schwerste Verbrechen begangen wurden und werden.

Bernhard Pahlmann, Rottweil

Es geht um die Geste

Heribert Prantl hat recht: Es geht um die Geste, wenn Hundertjährige aus ihren Rollstühlen gezerrt werden, um sich dem Urteil der Nachgeborenen zu stellen. Verurteilt werden sie, weil sie als 19-Jährige auf dem falschen Wachturm standen oder in einem falschen Büro den Dienstplan tippten. Es geht um die Geste, den Opfern gegenüber, dem eigenen guten Gewissen gegenüber, der Welt gegenüber. Die sonst doch für die Urteilsfindung so bedeutende Beurteilung der Gesamtpersönlichkeit muss da zurücktreten: Es geht um die Geste.

Helmut Mayer, München

Keine Entscheidungsfreiheit

In der Kolumne zu hochbetagten Helfern des NS-Regimes vermisse ich die Kenntnis und das Verständnis für den Druck, der auf die jungen Menschen in der NS-Zeit ausgeübt wurde. Die heute angeklagten Hochbetagten zwischen 90 und 100 Jahren waren in der NS-Zeit zwangsläufig in den staatlichen Jugendorganisationen. Wenn man das richtige Alter hatte, wurde man automatisch "Hitlerjunge", zunächst im "Jungvolk" und dann in der "Hitlerjugend". Für die Mädchen gab es entsprechend den "Jungmädchenbund", der überging in den "Bund Deutscher Mädel". Man konnte das nicht ablehnen. Man konnte auch nicht austreten. Was dort an Indoktrination der Jugendlichen geschah, würde man heute "Gehirnwäsche" nennen.

Ich wuchs in einer antifaschistischen Familie auf, da mein Vater nach der Machtergreifung 1933 seine Anstellung verlor und sich eine neue Existenz aufbauen musste. In der Familie und im eng begrenzten Umfeld hielt man nach außen die "Klappe". Man wollte bloß nicht den NS-Leuten auffallen. Ich wurde mit zwölf Jahren Zwangsmitglied im "Jungvolk". Jeden Samstagnachmittag sollten wir zum "Fahnenappell" neben der Schule antreten. Da ich das mit diversen Ausreden immer wieder "geschwänzt" hatte, stand schließlich am Samstagnachmittag die Polizei vor der Tür und brachte mich zum "Fahnenappell". Meine Mutter bat mich danach unter Tränen, dem Appell zu folgen, um nicht für die ganze Familie die missbilligende Aufmerksamkeit der "Partei" zu erregen.

Auch danach war in den Kriegsjahren die eigene Entscheidung sehr begrenzt: Die Jungen kamen meist zum Militär, die Mädchen wurden meist Sanitätshelferinnen in Kriegslazaretten oder zwangsverpflichtet für andere kriegswichtige Tätigkeiten. Man passte sich an und wollte heil den Krieg überleben.

Sehr geehrter Herr Prantl, Ihre Generation hat diese schlimme Zeit nicht miterlebt. Sie können sich nicht vorstellen, wie schwierig es für mich und Gleichaltrige war, sich den Einsatzvorstellungen der NS-Bürokratie zu entziehen, ohne in Verdacht zu geraten. Die heute angeklagten 90- bis 100-Jährigen hatten kaum Entscheidungsspielraum für ihren damaligen Einsatz im Krieg. Aufmucken war gefährlich. Deshalb haben all die derzeitigen Prozesse gegen 90- bis 100-jährige, angebliche NS-Verbrecher, den Beigeschmack von Selbstgerechtigkeit und Arroganz. Diese Menschen waren zum damaligen Handlungszeitpunkt im Krieg Jugendliche oder ganz junge Menschen, die unter Überlebensdruck leben und handeln mussten. Man schämt sich heute fast, wenn man sieht, wie diese halbdementen Greise monatelang vorgeführt werden.

Helmut Schön, Ravensburg

Einflussreiche Minderheit

Anders als Heribert Prantl, glaube ich nicht, dass Prozesse über die Verbrechen der Nazi-Herrschaft in den Nachkriegsjahrzehnten gegen den Widerstand der "Gesellschaft" geführt werden mussten. Nicht die Gesellschaft hat den Widerstand geleistet, sondern die vielen weiterhin im Amt vorhandenen Mitglieder der Justiz und zusätzlich viele Politiker aus den konservativen Parteien CDU, CSU, FDP, BHE (Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten), Republikaner und NPD (die AfD gab es damals noch nicht). Diese "Widerständler" waren nicht die Bevölkerung oder die "Gesellschaft" (wer immer das sein soll), sondern eine kleine, aber sehr einflussreiche Minderheit. Diese angeblich verführten Existenzen waren es auch, die entgegen der Einstellung der Bevölkerung der Nachkriegszeit die verbrecherischen Untaten jahrzehntelang weggeschoben haben.

Eine sehr lobenswerte Ausnahme war der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, der wegen seiner Einstellung zu den Verbrechern der Nazizeit heftig angegriffen wurde. Auch die Mehrheit der deutschen Bevölkerung, besonders die christlich geprägten Menschen, waren für die Prozesse über die Verbrecher. In fast jedem Dorf im Münsterland gab es zumindest eine Person, die auch öffentlich für die Politik der Nazis eintrat, aber nach dem Krieg im Dorf gemieden wurde, sodass deren Kinder ebenfalls unter der Ausgrenzung sehr gelitten haben.

Dr. Ludger Bußhaus, Erftstadt

Mildernde Umstände

Heribert Prantl meint, juristisch "gerecht": "NS-Verbrecher auch nach achtzig Jahren noch zu bestrafen, ist richtig und wichtig." - und stellt sieben Fragen, in denen diese Maxime infrage gestellt wird, zum Beispiel: "Soll man diese Leute ... einfach ihr Leben zu Ende leben lassen?" Sowohl das eine wie das andere ist, meine ich, sehr zu bedenken. Und zwar unter dem Gesichtspunkt der mildernden Umstände, womit ich nicht das hohe Alter der Delinquenten im Auge habe, sondern ihre von Hitler und seinen Nazis missbrauchte Jugend in den 1930er- und Anfang der 40er-Jahre.

Man kann sich heute nicht vorstellen, mit welchem absolutistischen Propagandaaufwand der unantastbare, gottgleich glorifizierte "Führer" und seine Parteigenossen sich in Szene setzten. Ihre wichtigsten NS-Ziele (Weltherrschaft, Lebensraum im Osten, Vernichtung der Juden) wurden tagtäglich in das "Deutschtum" verherrlichenden Reden und vom Volksempfänger dröhnend unter die Leute gebracht. 1938 hatten sie gut 80 Prozent der Bevölkerung hinter sich. Da gab es vor allem für Jugendliche kein Entrinnen, besonders nicht für die, die in der HJ (Hitler-Jugend) oder dem BDM (Bund Deutscher Mädel) organisiert waren und schulisch auf niedrigem Bildungsniveau blieben. Deswegen haben sie begeistert mitgemacht, egal wozu sie später abkommandiert waren - auch als Handlanger in KZs. Und bis heute sind die meisten dieser Mitläufer intellektuell und zum Teil aus Altersgründen nicht in der Lage, ihre Haltung, in der sie geistig-moralisch beheimatet waren, zu revidieren. Ihr Verhalten vor Gericht zeigt meines Erachtens klar, dass sie damit überfordert sind.

Deswegen möchte ich den Richtern und Richterinnen, die mit diesen Tätern und deren Delikten befasst sind, die nicht bestritten werden, vorschlagen, mit Blick auf deren indoktrinierte Jugend die Möglichkeit der Berücksichtigung mildernder Umstände ins Auge zu fassen. (Persönliche Bemerkung: Ich war im Krieg in der HJ. Und hatte in Nachkriegsdeutschland trotz Besuch NS-kritischer Gymnasien lange Zeit Probleme, mich vom Führerkult zu lösen, das kam erst im Studium. Viele Gleichaltrige haben das nicht geschafft.)

Dr. Phil. Wolf Allihn, Monheim am Rhein

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