"Letzte Generation":Kleben fürs Klima

"Letzte Generation": SZ-Zeichnung: Michael Holtschulte

SZ-Zeichnung: Michael Holtschulte

Heimliche Sympathie hegt manch ein SZ-Leser mit den viel gescholtenen Aktivisten, andere dagegen würden die jungen Menschen am liebsten ins Gefängnis stecken.

"Echtes Blut" vom 7. November, "Eine gewagte Behauptung" vom 5. November, "Ist das noch friedlich?" vom 4. November, "Justizminister warnt Klimaaktivisten" vom 3. November und weitere Artikel:

Ruck durch Deutschland

Die Klimaproteste der "Letzten Generation" sind gerechtfertigt. Sie sind ein Aufschrei der Jugend an die Politik, sich verdammt noch mal mit dem Erhalt des ökologischen Gleichgewichts auf unserem Planeten auseinanderzusetzen. Zuerst muss der CO₂-Ausstoß verringert werden. Klar, dass die "Letzte Generation" mit ihren radikalen Aktionen nicht nur Gegenliebe findet. Doch anstatt wild auf umweltbewegte Jugendliche einzudreschen, sollten wir ihnen recht geben und die Umwelt reinigen. Wie schon 1968 soll ein Ruck durch Deutschland gehen, angeführt von engagierten jungen Leuten. Es muss sich umweltpolitisch etwas bewegen.

Tork Poettschke, Dortmund

Fehlende Rettungsgasse

Es gibt viele Gründe, warum man sich nicht auf der Straße festkleben sollte. Aber ich teile die abgrundtiefe Verzweiflung der jungen Menschen über den Zustand unserer Welt. Dieser Unfall in Berlin spielt denen in die Hände, die Klimapolitik für ein ideologisches Ziel halten. Man verlangt ein hartes Durchgreifen der Justiz und volle Ausschöpfung möglicher Strafmaße. Aber warum stand das Bergungsfahrzeug so lange im Stau, wie täglich viele Feuerwehr- und Rettungsfahrzeuge? Weil offensichtlich zu viele Autofahrer, wie so oft, keine Rettungsgasse freigelassen haben. Wie hart wird hier ermittelt und bestraft werden?

Bärbel Höckh, Berlin

Zynisch

Wer bewusst den Verkehrsfluss behindert, wie die "Letzte Generation" mit ihrer Blockade, riskiert Menschenleben. Das ist meiner Meinung nach in Kauf genommen worden. Die Aussage von Carla Hinrichs ist an Zynismus und Unmenschlichkeit kaum zu überbieten. Nur der Kommentar "Shit happens" ist schlimmer. Ob diese Aktion eine Straftat ist, entscheiden Gerichte, und ich hoffe, sie entscheiden so. Die Aktion ist moralisch verwerflich, weil sie die Gefährdung von Menschenleben nicht nur in Kauf nimmt, sondern provoziert. Hoffentlich ist die "Letzte Generation" die letzte, die so leichtsinnig mit Leben umgeht und verantwortungslos handelt.

Heide Monheimius-Strack, München

Dem Auto ans Leder

Wer Klimaaktivisten vorwirft, dass sie eine Radfahrerin auf dem Gewissen hätten, muss sich fragen lassen, worum es ihm wirklich geht. Um die Radfahrerin? Dann engagiert sich dieser Mensch bestimmt für breite Rettungsgassen, gegen das Radlertotfahren beim Abbiegen, gegen zugeparkte Rad- und Fußwege. Wie denn - nichts von alledem? Dann sei der Schluss erlaubt: Hier geht ein halbes Land auf die Barrikaden, weil Menschen aus Angst um die Zukunft des Planeten dem Auto ans Leder wollen. Das ist in Deutschland ein Sakrileg.

Ursula Walther, Herzogenaurach

Kleben lassen

Warum lässt man die Vertreter der "Letzten Generation", die sich auf Straßen und in Museen an berühmte Bilder kleben, nicht einfach zwei oder drei Tage kleben, anstatt sie sofort aus ihrer selbstgewählten Situation zu befreien? Ich bin sicher, dass ihnen das helfen würde, diese Art des Protestes zu überdenken.

Björn Luley, Frankfurt am Main

Ungleich

Dass Einsatzfahrzeuge durch Protestaktionen behindert werden, passiert. Zur Abkühlung der Debatte sollte man die Aktionen in Relation setzen. Da fahren Landwirte einen ganzen Tag lang mit Traktoren ohne Straßenzulassung viel zu langsam auf der Autobahn nach Berlin teils sogar nebeneinander, um ein Güllefass vor einem Ministerium zu leeren, und keiner muss fürchten, dass er für Nötigung von Autofahrern, den Verstoß gegen die Straßenverkehrsordnung, Kfz-Steuergesetze oder die Straßenverschmutzung belangt würde. Die Medien berichten meist verständnisvoll. Ähnlich ist es bei Straßenblockaden der Fuhrunternehmer. Dagegen werden junge Klimaaktivisten teils mit Strafanträgen von 12 000 Euro überzogen. Wo ist da die rechtliche Gleichbehandlung?

Vielleicht sind ja ein paar Cent höherer Milchpreis (der zur Haltung von mehr Kühen und noch mehr Überproduktion genutzt wird) oder ein paar Euro weniger Mautgebühr wichtiger für unsere Gesellschaft als die Forderung von Klimaschutzmaßnahmen in dem Tempo, das fast alle renommierten Klimawissenschaftler für unbedingt erforderlich halten.

Richard Geist, München

Sammelbecken von Wutbürgern

Manche Klimaaktivisten radikalisieren sich und überschreiten Grenzen. Es sind Straftaten, mit denen vor allem die "Letzte Generation" auf sich aufmerksam machte. Mit ihren Aktionen polarisieren und provozieren sie die Bürger. Damit, auf die Erderwärmung hinzuweisen und Politik wie Zivilisation zu verantwortungsvollerem Umgang mit den Ressourcen zu zwingen, haben die Proteste nichts mehr zu tun. Stattdessen erzeugen sie wachsenden Unmut und versuchen, mit moralischer Erpressung Veränderungen herbeizuführen. In dem Moment, in dem die Umweltschützer es zumindest billigend in Kauf nehmen, dass andere Menschen zu Schaden kommen, sind sie in eine neue Variante des Extremismus übergegangen, die der Verfassungsschutz dringend beobachten sollte.

Gewaltlosigkeit ist Konsens für legitimen Meinungsausdruck. Sachbeschädigung und Eingriffe in den Straßenverkehr sind dagegen unrechtmäßig. Wer sich nicht darum schert, mittelbar mit seinem Tun Menschenleben zu gefährden, verliert die Rechtfertigung für vielleicht inhaltlich nachvollziehbare Forderungen. Die "Letzte Generation" erweist der gesamten Klimaschutzbewegung einen Bärendienst. Unzufriedenheit darf nicht dazu beitragen, das Land in Geiselhaft zu nehmen.

Von Frieden und Freiheit verwöhnte Aktivisten, die offenbar nicht gelernt haben, wie wertvoll das blutig erkämpfte Recht auf Demonstration und Meinungsäußerung ist, dürfen nicht länger unter dem Deckmantel der Verteidigung unser aller Zukunft agieren. Ihnen muss gezeigt werden, dass Konventionen einzuhalten sind. Krisen und Katastrophen können kein Grund sein, sich über Normen zu stellen. Das nahezu kindlich-naive und törichte Empören darüber, dass sich immer mehr Menschen von den Klimaschützern entsolidarisieren, entlarvt die "Letzte Generation" als Sammelbecken von Wutbürgern, die anderen Radikalen in nichts nachstehen.

Dennis Riehle, Konstanz

Welch Geistes Kind

Wenn sich Aktivisten auf dem Asphalt festkleben und den Autoverkehr stören, sehen Sicherheitsfanatiker sofort das "Grundrecht freie Fahrt für freie Bürger" gefährdet und fordern, dass der Staat mit voller Härte zuschlagen soll. Leute, die eine Ordnungswidrigkeit begangen haben, werden mit Terroristen verglichen und sollen in Haft, weil sie in Zukunft etwas tun könnten, was "die Ordnung stört"? Diese Methoden erwartet man von Putin, Al Sisi oder Xi, nicht von einer selbstbewussten Demokratie. Wenn Demokraten vergessen, wer für den Tod der Frau verantwortlich ist, und fordern, die "Kleber" wegen fahrlässiger Tötung anzuklagen, weil ein Stau entstand und ein Spezialfahrzeug nicht durchkam, das letztlich nichts bewirkt hätte, muss ich mich fragen, welch Geistes Kind solche Politiker sind. Von Leuten, die unsere "Werte" verteidigen, erwarte ich mehr.

Die Sicherheitsfanatiker können sich ja mal bei der Verkehrspolizei erkundigen, wer meist die Durchfahrt von Rettungsfahrzeugen behindert, so auch in Berlin. Aber Fakten interessieren Alexander Dobrindt und Co. nicht. Ihnen missfällt das Anliegen der "Letzten Generation", weil es darauf hinweist, dass die "aktuelle Generation" und deren Vorgänger nichts gemacht haben. Verzicht ist mit Wachstum nicht kompatibel. Deswegen wird der COP 27 ausgehen wie die 26 Kongresse vorher. Der reiche Norden wird nicht verzichten, und der Süden will dorthin, wo der Norden ist. Blöderweise gibt es aber nur eine Erde, nicht drei oder vier.

Thomas Spiewok, Hanau

Die Arroganz der Wohlstandsgesellschaft

Selbstverständlich habe ich große Sympathie für das Entsetzen von Felicitas Klein, als sie vom Kartoffelbrei auf Claude Monets "Heuschober" hörte. Klein hat ihr Leben der Kunst und dem Erhalt der Bilder, die sie restauriert, gewidmet. Aber ich sehe eine Diskrepanz in der öffentlichen Bewertung dieser Aktionen. Die jungen Menschen werden mit einer Arroganz, die nur von Menschen ausgehen kann, die in einer Wohlstandsgesellschaft leben dürfen, attackiert - ohne Selbstreflektion.

Hat das Bundesverfassungsgericht im März 2021 nicht ausdrücklich betont, dass der Gesetzgeber das Leben und die Gesundheit seiner Bürgerinnen und Bürger vor den Gefahren des Klimawandels zu schützen hat? Ich sehe kein Umdenken bei den verantwortlichen Personen. Längere Laufzeiten von Atomkraftwerken und Kohlekraftwerken sind das Gegenteil davon. Natürlich nur, um unseren Lebensstandard zu erhalten. Tempolimit auf den Autobahnen - Gott behüte! Verzicht auf Weihnachtsbeleuchtung - nicht mit uns! Übers Wochenende zum Shoppen nach Barcelona - das ist unser gutes Recht! Die UN bilanzierten jetzt, dass die Weltgemeinschaft zu wenig tut, um das 1,5-Grad-Ziel zu erreichen. Wir steuern also auf eine für Menschen unbewohnbare Erde zu. Aber warum soll ich mir Gedanken machen? Ich bin doch schon über 60. Für mich wird es noch reichen, aber für die jungen Menschen, die mit ihren Aktionen ein rascheres Handeln verlangen, vielleicht nicht. Was ist da schon ein Bild gegen Menschenleben, und wenn es noch so schön oder wertvoll ist? Nichts!

Dr. Hans-Jürgen Blinn, Landau/Pfalz

Hehres Ziel

Irgendwie kann man das radikale Vorgehen der Klimaaktivisten verstehen. Zwar kneift's unangenehm in meinem Herzen, wenn die Jungen die Gemälde attackieren. Doch das ist nur ein kleines Wehwehchen, wenn man sieht, wie der Mensch den Planeten ausbeutet und zerstört. Und geblendet von Ignoranz und Profitgier einfach weitermacht - ohne zu merken, dass er an dem Ast sägt, auf dem er sitzt. Ich hege die heimliche Ahnung, dass ein Vermeer und ein vom Leben geschundener van Gogh den jungen, mutigen Menschen diese Aktionen nicht nachtrügen - ganz im Gegenteil. Dienen sie doch dem hehren Ziel, Industrie und Politik zum Einlenken zu bewegen, damit die Erde bewohnbar bleibt. Wenn die Jugend nicht wäre, täte es niemand.

Gebetsmühlenartig hört man immer wieder leere Phrasen zum Klimawandel. Mit der fragwürdigen 10-H-Regelung wird Sand ins Getriebe gestreut, statt es endlich anzutreiben. Dass der bayerische Ministerpräsident nun die Jungen als Enfants terribles brandmarkt, ist völlig verfehlt.

Michael Ayten, Trier

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