Kim de l'Horizon:Fragwürdige Rasur

Kim de l'Horizon: Kim de l'Horizon rasiert sich bei der Dankesrede für den Deutschen Buchpreis die Haare ab.

Kim de l'Horizon rasiert sich bei der Dankesrede für den Deutschen Buchpreis die Haare ab.

(Foto: Arne Dedert/dpa)

Die spontane Aktion des Buchpreisträgers trifft auf heftige Kritik. Für die Frauen im Iran sei es kein hilfreiches Zeichen des Protests, bemängeln SZ-Leser und -Leserinnen.

"Ich protestiere" vom 22./23. Oktober:

Selbstinszenierung

Nele Pollatschek hat den Mut, die Dinge auf den Punkt zu bringen. Fremdscham musste einen bei der Selbstinszenierung von Kim de l'Horizon befallen. Und das kritiklose Johlen des Publikums nach jedem Satz oder jeder Geste erinnerte mich in fataler Weise an Auftritte von Donald Trump oder Wahlabende in den Parteizentralen.

Joachim Förster, Berlin

Naiv und verletzend

Auch ich habe mich echauffiert, als Kim de l'Horizon den Rasierer auspackte. Wie leicht ist solch eine Geste, wenn man nicht um sein Leben fürchten muss. Und es war ja - spontan, an sich ja reizend - einiges geboten in der Dankesrede. Da war für jeden etwas dabei.

Ich setze mich seit meinem 16. Lebensjahr für Menschenrechte ein und habe mit Leuten gesprochen, die Folter und Missbrauch am eigenen Leib erlebt haben, die im Untergrund arbeiteten und um ihr Leben fürchten mussten. Eine solche Geste wirkt deshalb für mich recht naiv und fast schon verletzend. Nichtsdestotrotz: Lassen Sie uns reflektiert zusammenstehen und gegen das Unrecht angehen oder anschreiben!

Ute Finzel, Burghausen

Pseudogerechtigkeit

Die Kritik an Kim de l'Horizon lautet, er missbrauche das Thema Frauen und Iran, um Aufmerksamkeit zu erheischen. Nun geht es um etwas mehr als nur um Aufmerksamkeit. Denn Aufmerksamkeit und Anerkennung benötigen kleine Kinder, um eine stabile Identität zu bilden, die als Erwachsene lebensnotwendig ist. Es geht also um mehr als "es wurde gesungen und geschoren". Wobei beide Begriffe einen tiefen politischen Hintergrund besitzen, auf den ich nicht eingehen möchte.

Aus seiner fragmentarischen Rede zur Preisverleihung nahm ich Folgendes mit: Der Autor kritisiert die Personalpronomen. Sie sind hochgradig politisch, lesen wir im Zusammenhang mit dem Buchpreisgewinner Kim de l'Horizon. Er fordert mit seinem honorierten Buch die Abschaffung von Personalpronomen, um Gerechtigkeit zu erreichen. Doch wie sieht diese Gerechtigkeit aus?

"Er" hat seine Frau krankenhausreif geschlagen, und sie muss in einem Frauenhaus Zuflucht finden. Normalität. "Sie" wird von ihrem Partner vergewaltigt, wenn er ein Glas zu viel trinkt, was fast jeden Tag in der Woche einschließlich am Wochenende vorkommt. Normalität. "Es" kommt selten vor, dass "sie" Karriere macht, weil "er" immer Vorrang hat. Normalität.

Wenn mit dem Abschaffen von Personalpronomen die oben angedeuteten Probleme zwischen den Geschlechtern ebenfalls abgeschafft sind, dann bitte möchte ich jeden Tag non-binäre Menschen um mich haben. Doch schauen wir genau hin, scheinen nicht die Personalpronomen das Problem zwischen den Geschlechtern zu sein, die Ungerechtigkeit erzeugen oder gar die Lösung in sich tragen, sondern die "Normalität". An dieser (männlichen) Normalität krankt doch jedes Personalpronomen. Wir können also die Sprache drehen und wenden, wie wir wollen, alle Pronomen dieser Welt abschaffen, doch die blauen "Flecken" am Rücken und an den Augen von Frauen werden dadurch nicht verschwinden. Nur den Täter zu ermitteln und zur Rechenschaft zu ziehen, wird etwas schwerer werden, wenn es heißt, war "er", "sie" oder "es" im Diversity-Körper es, der, die, das Gewalt an etwas ausgeübt hat?

Lediglich bei der Vergewaltigung wird die Frage nach "Wer war der, die, das" fast zu 99 Prozent eindeutig noch geklärt werden können. Das Abschaffen von Personalpronomen verschleiert also nur bestehende Gewaltverhältnisse, die unter den Mantel von Pseudogerechtigkeit gedrückt werden, damit sie verschwinden, wenn kaum noch ein Täter dechiffriert werden kann, während die Zahl der weiblichen Opfer weiterhin steigt. Wollen wir das wirklich, Frauen?

María del Carmen González Gamarra, Simmertal

Das Verfehlte des Genderns

Der ausgezeichnete Artikel von Nele Pollatschek stellt nicht nur die eitle Selbstinszenierung von Kim de l'Horizon ins rechte Licht, sondern zeigt auch das Verfehlte des Genderns auf: "Beim Gendern geht es um Sichtbarkeit." Gendern ist einer der Wege, "mehr Sichtbarkeit zu bekommen, als einem zustände, wenn Aufmerksamkeit gleichmäßig auf alle Menschen verteilt wäre". Entscheidend ist der Hinweis, dass es einen Unterschied macht, ob man daran leidet, dass man nicht genug Aufmerksamkeit bekommt, oder daran, dass man nicht genug zu essen hat oder verfolgt wird.

Norbert Tholen, Jüchen

Haarsträubend

Die Autorin schreibt viel, sagt aber wenig. Es geht um die gerechte Verteilung öffentlicher Aufmerksamkeit. Aufhänger ist die spektakuläre Aufmerksamkeit, die sich der oder die diesjährige Buchpreisträger oder Buchpreisträgerin Kim de l'Horizon mit der "haarsträubenden" Performance am Abend der Preisverleihung selbst verschafft hat und die er oder sie nicht verdient hat. Ob das Buch die Aufmerksamkeit der Leser verdient, steht auf einem anderen Blatt. Man muss es bezweifeln.

Ebenso ist fraglich, ob es mit der Rasieraktion gelungen ist, den Hass, die Ablehnung und Verachtung für Personen, die non-binär leben, zu vermindern. Die Verfasserin schreibt, Kultur bedeute, Wege zu finden, mehr Aufmerksamkeit zu bekommen, als einem zustände, wenn Aufmerksamkeit gleichmäßig auf alle Menschen verteilt wäre. Nein: Kultur ist schon lange nur noch der Versuch, den Niedergang der Kultur aufzuhalten, wie der Schweizer Aphoristiker Markus M. Ronner einmal trefflich formulierte.

Stefan Kaisers, Gießen

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