Abschied:Stimmen zum Tod von Michail Gorbatschow

Abschied: Hunderte verabschieden sich mit Blumen und Kränzen vom früheren russischen Staatschef Michail Gorbatschow. Westliche Politiker sind nicht dabei.

Hunderte verabschieden sich mit Blumen und Kränzen vom früheren russischen Staatschef Michail Gorbatschow. Westliche Politiker sind nicht dabei.

(Foto: IMAGO/Sergey Guneev/IMAGO/SNA)

Dass kein deutscher Politiker nach Russland gefahren ist, um dem "Vater der Deutschen Einheit" die letzte Ehre zu erweisen, empört einige SZ-Leser. Ebenso, dass bislang keine Gedenkveranstaltung geplant ist.

"Mann am Scharnier", "Überwiegend unterkühlt" und "Zwei Leben" vom 1. September:

Beschämend

Am Samstag ist der Friedensnobelpreisträger und "Vater der Deutschen Einheit", Michail Gorbatschow in Moskau bestattet worden. Er war am Dienstag nach langer, schwerer Krankheit im Alter von 91 Jahren gestorben. Es wird ein "leiser Abschied", ein Staatsbegräbnis gibt es nicht. Putin nimmt nicht an der Trauerfeier teil. Wenn auch Gorbatschow in aller Welt überhäuft wurde mit Ehrungen für seinen Friedensnobelpreis, so wissen wir, dass ihn viele Russen als Totengräber der Sowjetunion betrachten und weitgehend verachten. Wegen des Angriffs auf die Ukraine und die damit verbundenen Sanktionen wird kein führender Politiker der EU bei der Trauerfeier erwartet. In Moskau haben sich dennoch Hunderte Menschen vor dem Leichnam von Gorbatschow versammelt, wo man vor dem Sarg Blumen niederlegte und kurz innehielt.

Auch wenn Scholz nicht an der Beerdigung von Gorbatschow teilnimmt, so wäre eine Gedenkveranstaltung bei uns für den Mann des Mauerfalls ein Zeichen der Dankbarkeit. Doch in Deutschland ist bisher "keine Gedenkveranstaltung" geplant. Und darüber können wir uns nur wundern. Wenn auch Scholz und die gesamte Führung der EU nicht an der Beerdigung teilnehmen, weil man angeblich "nicht eingeladen" wurde, so ist es für die ganze EU eine noch nie da gewesene Katastrophe, dass kein EU-Politiker, vor allem keiner aus Deutschland den Mut hat, sich trotzdem nach Moskau zu bewegen. Unfassbar und beschämend ist es jedoch, dass hier bis heute "keine Gedenkfeier" stattfindet. Schließlich haben wir Gorbatschow die Wiedervereinigung von Deutschland zu verdanken.

Selbst in Moskau hätte die EU-Führung "Gedenkveranstaltungen" führen müssen für alle klugen, demokratischen Russen. So können die Putin-Fans nur lachen, und das für den "größten Kriegsverbrecher" der Nachkriegszeit. Und wir können uns nur schämen, für den "größten christlichen und menschlichen Fehler" der Nachkriegszeit!

Dirk Wanke, Kiel

Glücksfall für Deutschland

Gorbatschow war nicht nur der Wegbereiter für die deutsche Wiedervereinigung, er hat auch entscheidend dazu beigetragen, dass bei der Vereinigung der beiden deutschen Staaten kein Blut vergossen wurde.

Welcher Glücksfall Gorbatschow für die jüngste deutsche Geschichte war, lässt sich an den aktuellen Ereignissen im Osten Europas ermessen. Dort betreibt Putin die Wiedervereinigung der "russischen Erde" in Zarenmanier. Er schreckt dabei vor keiner Gewalttat zurück; Staaten, die sich dem russischen Herrschaftsanspruch widersetzen und die Vereinigung verweigern, überzieht er mit Krieg und Terror. Wiedervereinigung á la Putin ist ein blutiges Gemetzel. Der Gegensatz zu Gorbatschow könnte größer nicht sein.

Roland Sommer, Diedorf

Ein Platz für Gorbatschow

Gorbatschow war gemeinsam mit Helmut Kohl der Wegbereiter des aus deutscher Sicht historisch wichtigsten Ereignisses der Nachkriegszeit. Ungezählt die Konrad-Adenauer- oder Willy-Brandt-Gedächtnisstätten, -plätze- und -straßen. "Gorbi" hätte es verdient, wenn der Potsdamer Platz in Berlin künftig seinen Namen tragen würde. Ohne ihn keine Wiedervereinigung.

Christoph Schönberger, Aachen

Seiner Zeit voraus

Der große Michail Gorbatschow war seiner Zeit weit voraus. Leider ist sein außerordentliches Vermächtnis schon zu seinen Lebzeiten nicht verstanden und anerkannt worden. Weder in Ost noch in West. Die Welt indes braucht Menschen wie ihn, um Gewaltlosigkeit und Frieden erreichbar zu machen.

Matthias Bartsch, Lichtenau

Welt ohne Ost-West-Konflikt

Möglicherweise war der einzige, aber leider auch größte Fehler von Michail Gorbatschow sein unerschütterlicher Glaube an die "Sapientia" - an die Klugheit, Besonnenheit und Weisheit einer Gattung, die sich "Homo sapiens" nennt, den Nachweis der Rechtmäßigkeit dieses Titels aber bis heute schuldig geblieben ist. Das gibt auch der Hoffnung wenig Raum, dass sich anlässlich der Beerdigungsfeierlichkeiten neue Annäherungen zwischen Ost und West ergeben könnten. Vielmehr steht zu befürchten, dass man auch diese Chance, wie zuvor tausend andere, nutzlos verstreichen lassen wird. Andernfalls könnte daraus, wenn schon nicht zu Lebzeiten, so wenigstens "posthum", das Saatkorn einer neuen Weltordnung ohne Ost-West-Konflikt - als größte Hinterlassenschaft "Gorbis" - heranwachsen.

Manfred Ebeling, Raubling

"Wind of Change"

Nun ist Michail Gorbatschow verstorben, ein Mann, der in der westlichen Welt hoch geachtet, in Russland aber eher hoch verachtet wurde und wird. Unter seiner Regentschaft wurde die Sowjetunion (1922 bis 1991) zu Grabe getragen, und jetzt will der russische Präsident Wladimir Putin die große Sowjetunion wieder zurück haben. Von einem "Wind of Change" sang damals, im September 1989, Klaus Meine von den Scorpions, heute bläst uns ein ganz anderer und sehr rauer Ostorkan voll ins Gesicht.

Klaus P. Jaworek, Büchenbach

"Der Sommer ist vorbei"

"Die Revolution frisst ihre Kinder", möchte man angesichts des Schicksals dieses Jahrhundertpolitikers sagen, der unserem Land die Befreiung brachte und seinem Land Demokratie bringen wollte, aber hauptsächlich Chaos gebracht hat, jedenfalls nach Meinung der meisten seiner Landsleute, die bisher nur Despoten kannten und auch Putins Krieg unterstützen. Es lohnt sich, Gorbatschows Memoiren (Siedler-Verlag), die er auch in Berlin vorstellte, zu lesen, in denen er das ganze Dilemma des politischen Systems, das ihn groß gemacht hatte und das er vergeblich versuchte zu ändern, beschreibt. Die Ideologen, die Gorbatschow als "Zerberusse des Systems" beschrieb, hätten nicht ohne Grund angenommen, "dass die Wahrheit den Glauben an die Unfehlbarkeit unserer Dogmen untergraben und nicht nur den 'Kaiser', sondern auch den ganzen 'Hof' aller Welt in völliger Nacktheit gezeigt hätte". In seinen letzten Lebensjahren, schwer krank und einsam, zitierte er gerne ein (offenbar russisches) Gedicht, in dem es unter anderem heißt: "Und traurig neigen die Weiden sich zur Erde/der schöne Sommer ist vorbei/Kälte wird nun Einzug halten, die Blätter werden fallen und vom Wasser weggetragen."

Wilfried Mommert, Berlin

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