Süddeutsche Zeitung

Soziales Pflichtjahr:"Frag, was du für dein Land tun kannst"

Diese Maxime John F. Kennedys ruft konträre Reaktionen hervor. Manch ein Befürworter fragt sich allerdings, warum sich nur die jungen Leute engagieren sollten, warum nicht auch die älteren.

"Vom Segen der Selbstverpflichtung" vom 12. Juli:

Akt der Solidarität

Ein soziales Pflichtjahr, das der Jugend zur Erkenntnis dienen soll, was den Sinn einer Gesellschaft ausmacht. Dies ist aus meiner Sicht sehr zu befürworten. Aber warum wird in diesem Zusammenhang nur auf die Jugend geblickt? Gerade den Generationen der jetzigen und baldigen Rentner, die den Zeitgeist der Individualisierung und Verschwendung hervorgebracht und ihren Kindern vorgelebt haben, stünde es gut zu Gesicht, in einem sozialen Jahr zu erforschen, was den Sinn einer Gesellschaft ausmacht.

Diese Generationen haben sich in einem langen Leben unter Nutzung vieler Ressourcen in verschiedensten Lebensbereichen Qualifikationen aneignen können. Sie könnten angehalten werden, der Gesellschaft etwas zurückzugeben. Ihr Wissen, ihre Erfahrung und ihre Fertigkeiten könnten der Gesellschaft von großem Nutzen sein. Wie wäre es also mit einer Pflicht für Senioren zum Ehrenamt? Für ein Jahr? Bei Gefallen gerne auch für länger. Das wäre gelebte Nachhaltigkeit und ein Akt der Solidarität.

Birgit Gemple, Schwaig

Prägend, ein Leben lang

Ich glaube, die größte Sorge der zu Verpflichtenden vor einem solchen Dienst ist die, dass vermeintlich nur wenige Einsatzbereiche in Pflege, Krankenhäusern und Kindergärten zur Verfügung stehen. Ulrich Wickert weist darauf hin, dass die Dienste sehr viel weiter gefächert sind - auch im Ausland. Ich selbst habe 1981/82 ein Jahr als Freiwillige einen Friedensdienst im damals vom Bürgerkrieg geschüttelten Nordirland geleistet. Was ich dort erfahren und gelernt habe, prägt mich bis heute. Und ich verdanke dieser Zeit mein Interesse und meinen Einsatz im interkulturellen und interreligiösen Bereich. Wie viele bereichernde Begegnungen und Erkenntnisse habe ich daraus gewonnen!

Diese Möglichkeit, ein besseres Verständnis für Zusammenhänge zu erlangen und eine empathischere Einstellung anderen Menschen gegenüber, wird in unserer verletzlichen Gesellschaft sehr gebraucht.

Ingeborg Ott, München

Ausgenutzt

"Nüßlein und Sauter dürfen Millionenprovisionen ... behalten." "Eine Gesellschaft funktioniert nur, wenn sie zum Einhalten ihrer ethischen Werte erzieht." Und wenn sich die Korrupten, dank wachsweicher Gesetze, in großem Rahmen ungestraft bedienen? Dann muss eben der moralische Druck auf die Jugend verstärkt werden, für einen "Ehrensold" dieses Fehlverhalten auszugleichen.

Ich habe dazu ein aktuelles Beispiel: Die Enkelin einer Freundin ist in Vollzeit bei einem Demokratieprojekt engagiert. Die Abiturientin bekommt 300 Euro pro Monat, weder Kost noch Logis noch sonstige Zuwendungen. Wenn die Eltern des Mädchens dessen Engagement nicht subventionieren würden, würde es nach einem Jahr des Ausgenutzt-Werdens mit mehreren Tausend Euro Schulden dastehen. Und hätte sicher eine Menge über den Wert des Dienstes an der Gemeinschaft gelernt. Vielleicht bleibt sie dann als Krankenschwester, Altenpflegerin oder Kindergärtnerin im Pool der unterbezahlten Idealisten. Ulrich Wickert sollte sich an der Realität orientieren.

Edeltraud Gebert, Gröbenzell

Gemeinschaft erleben

Dem Beitrag "Vom Segen der Selbstverpflichtung" stimme ich in allen Punkten zu. Ein Argument für das soziale Pflichtjahr will ich noch anmerken: An den jeweiligen Einsatzstellen werden die jungen Menschen Kolleginnen und Kollegen aus unterschiedlichen sozialen Schichten, Bildungs- und Altersstufen vorfinden. Sie werden - neben den Erfordernissen des Einsatzes - auch lernen, sich mit deren Meinungen, politischen Positionen und Erfahrungen auseinanderzusetzen. Ein Pflichtjahr für die Gemeinschaft ist auch ein Jahr mit der Gemeinschaft. Das Erleben und das Lernen bringen für beide Seiten hohe Gewinne. Insofern wäre dieses Pflichtjahr für die Gemeinschaft auch ein generationen- und schichtübergreifendes Projekt. Mein Appell: nicht jahrelang darüber debattieren, sondern zeitnah einführen!

Angelika Simeth, München

Ein Gewinn für Deutschland

In der Sache teilen wir die Position von Ulrich Wickert. Die allgemeine Schulpflicht wurde in den meisten Bundesländern vor Jahren um ein Jahr erhöht. Es gab keine Widerstände. Warum soll die Einführung eines sozialen Pflichtjahrs nicht möglich sein? Das soziale Pflichtjahr wäre unserer Auffassung nach ein Gewinn für dieses Land.

Katrinka und Markus Erich-Delattre, Hamburg

Dagegen

Das soziale Pflichtjahr soll's retten. Zum Wohle und Segen einer orientierungslosen Jugend, die nur sinnlos in die Ferne schweift, und als Heilmittel gegen eine zunehmend unsolidarische Gesellschaft sollen dort gewonnene Erkenntnisse auf den Pfad der gesellschaftlichen Verantwortung zurückführen? Was bisher nicht funktioniert, wird über eine verklausulierte Wiedereinführung von Wehr- und Ersatzdienst, einem Pflichtdienst, quasi eingefordert.

Nach dem Motto, das hat noch keinem geschadet, wird alles dann auch noch philosophisch hinterlegt. Angefangen damit, dass mit dem vorgeschlagenen Zeitraum von einem Dreivierteljahr bei einem Azubigehalt (das einer Bankkauffrau oder das eines Dachdeckers?) keinem geholfen wäre, da der verwaltungstechnische Aufwand jeden Mehrwert auffrisst, gibt es viele Gründe, die diese so "einfache Idee" gnadenlos erden.

Vieles bleibt vage, die aufgestellten Thesen wirken hölzern und schaffen für den Zustand und die Weiterentwicklung unserer Gesellschaft, die sich tatsächlich unter dem Eindruck von Corona, Krieg und einem extremen Wandel unserer Lebensbedingungen schnell verändert und individualisiert, keine neuen Erkenntnisse und Mehrwert. Lediglich eine Erkenntnis bleibt, dass ich als ehemaliger Zivi einen solchen Dienst unter den genannten Bedingungen strikt ablehne.

Oliver Schulze, Detmold

Stärkung des Selbstwertgefühls

Bei mir rennen Sie offene Türen ein, Herr Wickert: Ich habe nicht nur (widerwillig, aber mit bleibenden Erfahrungen) 18 Monate Wehrdienst absolviert, sondern war danach auch 16 Jahre lang ehrenamtlich im Mannschaftssport tätig. Die dort überwiegend befriedigenden Erlebnisse, für andere etwas zu leisten, also ein nützlicher Teil der Gesellschaft zu sein, haben mir viel Selbstvertrauen gegeben. Das ist ein Gegenwert, auf den gedankenlose Hedonisten (oder deutlicher formuliert: übertriebene individualistische Freiheit fordernde Schmarotzer) verzichten müssen.

Selbstverpflichtung führt zu einer Stärkung des Selbstwertgefühls; und wer einmal ehrenamtlich tätig war, also anderen geholfen hat, weiß, dass das kein "Freiheitsentzug", keine "Volkserziehung" und keine "Verschwendung von Lebenszeit" (Lindner) war, sondern Sinngebung. Bis zum modernen Format eines JFK (John F. Kennedy) ist es ein vermutlich zu langer Weg zurück für den postmodernen Selbstverwirklicher des Neoliberalismus; selbst mit einem Porsche würde er vermutlich zu viel von seiner kostbaren Lebenszeit verschwenden...

Dr. Dietrich W. Schmidt, Stuttgart

Pflichtjahr für die 50 bis 70-Jährigen

Ich finde den Beitrag "Vom Segen der Selbstverpflichtung" ganz schön überheblich. Wenn ich auf junge Menschen in meinem näheren Umfeld gucke, dann sind nahezu alle auf irgendeine Weise sozial, ökologisch oder politisch engagiert. Damit meine ich nicht nur die ganz Jungen von "Fridays for Future", sondern auch die 30- bis Mitte 30-Jährigen. Sie tauschen Kleidung, statt neue zu kaufen, sie teilen Essen und Wohnungen, nehmen Flüchtlinge auf, engagieren sich für Menschen in Randgruppen, sie verzichten aufs Auto und aufs Fliegen, fahren Rad und mit dem Zug durch Europa.

Schaue ich auf Nachbarn, Kollegen und Bekannte aus meiner Altersgruppe (Jahrgang 1958), sieht es oft anders aus: Die behalten den Zweitfamilienwagen, obwohl die Kinder längst aus dem Haus sind, sind zu behäbig, um noch auf den ÖPNV umzusteigen, sie fliegen unbekümmert in den Urlaub, schaffen sich immer dickere Autos an und finden Geschwindigkeitsbegrenzung und autobefreite Straßen in den Innenstädten blöd. Und sie geraten offenbar in Panik, wenn sie nächsten Winter ein wenig kürzer duschen und ein bisschen weniger heizen sollen (sonst wären die Zeitungen nicht jeden Tag voll mit diesem Thema).

Die Solidarität, die Ulrich Wickert einfordert, wird allzu oft der Jugend verordnet. Die Pandemie mit ihren Folgen hat es überdeutlich werden lassen. Die mangelnden Werte, der unbedingte Wille zur individuellen Freiheit und die Vernachlässigung von Gemeinschaftsinteressen, die Wickert beklagt, sind eher nicht bei den Jungen, sondern bei den Älteren zu verorten, so schätze ich es ein. Wickert zitiert Finanzminister Christian Lindner, und der ist nicht mehr der Jüngste.

Ja, ein soziales Pflichtjahr gerne, aber nicht für die Jungen, sondern für die 50- bis 70-Jährigen. Die haben Denkanstöße viel nötiger! Und können obendrein den Jungen als Vorbild dienen.

Annegret Grafen, Frankfurt

Junge mehr in die Pflicht nehmen

Kennedys Satz ist eine meiner Lieblingsrepliken, wenn aller Orten über das große "Staatsversagen" (Bildungs- und Gesundheitswesen, soziale Gerechtigkeit, Finanz- und Wirtschaftssystem) lamentiert wird. Denn der Staat sind wir. Wir entscheiden, und das nicht nur bei den Wahlen, wie wir zusammenleben wollen. Ethik und Moral, nach Hannah Arendt, die Sitten und Gebräuche einer Gesellschaft, sind kulturspezifisch, werden also nicht mit der Muttermilch übertragen, sondern sind Ergebnis der Erziehung und der Notwendigkeiten. Damit sind sie veränderlich.

Ich werbe ebenfalls für die Wiedereinführung einer allgemeinen Dienstpflicht, wie Ulrich Wickert sie beschreibt, und stoße damit interessanterweise bei 16- bis 30-Jährigen auf deutlich mehr Zustimmung als bei Sozialpädagogen, Erziehungswissenschaftlern, Soziologen, die dem Irrglauben anhängen, unsere gesellschaftlichen Ideale seien etwas Universell-Menschliches, also von Gott, dem Weltengeist oder der Wirkkraft des Humanismus den Menschen eingepflanzt, und "Freiheit" sei der "Pflicht" diametral entgegengesetzt.

Nein, die Tugenden unserer westlich-pluralistischen, demokratischen Gesellschaft sind das Ergebnis von Erziehung und Einübung jedes Einzelnen von uns. Mögen wir also den Mut haben, uns wieder mehr zu verpflichten und unsere Jugendlichen und jungen Erwachsenen in die Pflicht zu nehmen.

Dr. med. Thomas Lukowski, München, Facharzt Psychiatrie und Psychotherapie

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