Süddeutsche Zeitung

"One-Love"-Binde:Viel Lärm um nichts am Arm

Das Verbot der Fifa, ein Zeichen für Toleranz und Menschenrechte während der WM-Spiele zu tragen, und das schnelle Einknicken der Nationalmannschaft erzürnen viele SZ-Leser und -Leserinnen.

"Die Leute sind durch damit" vom 26. November, "Diese Jammerei" vom 24. November, "Wie die Fifa tarnt, trickst und täuscht" und "Die einen erwartet Gelb, die anderen Gewalt" vom 22. November, "Nur Gute, nur Böse" vom 20. November und weitere Artikel:

Alles nur gekauft

Die WM der Verbote: "One Love"-Binde, Bier und Plakate sind nicht erlaubt. Kritische Meinung und viele Menschen (je nach Orientierung) sind nicht erwünscht, die Stimmung in den Stadien teilweise erkauft. Manchmal fühle ich mich wie in einer alten Comedy-Serie, wo das Lachen von Band eingespielt wird. Die Comedy damals passte allerdings besser zur Realität als jetzt in Katar. Möge die bessere Mannschaft gewinnen - und mögen die Waffen schweigen.

Lorenz Grötschel, Köln

Grotesk

Der Streit um die Armbinde der deutschen Mannschaft bei der Fußball-WM in Katar mutet angesichts des Leids der ukrainischen Bevölkerung und der mutigen Proteste in Iran grotesk an. In der Ukraine werden Tag und Nacht wehrlose Menschen von einer angeblich zivilisierten Atommacht bombardiert - auch schwangere Frauen und Kinder, die jetzt bei winterlichen Temperaturen teils ohne Strom und Wasser überleben müssen. In Iran werden mutige Demonstranten verhaftet, gefoltert oder hingerichtet. Ein iranischer Nationalspieler zeigt während der Hymne seine Armtätowierung: "Love me for who I am" (Liebe mich für den, der ich bin). Während halb Deutschland über das Tragen oder Nichttragen einer indifferenten, harmlosen Armbinde streitet. Die Mitglieder der Nationalmannschaft könnten ihre Solidarität effektiver bekunden, etwa mit namhaften Spenden ihrer üppigen Fußballgagen an die Ukraine und die iranischen Oppositionellen. Wie sagte der ARD-Kommentator zum Auftakt des Spiels Wales - Iran zur Tätowierung: "Das ist so viel wichtiger, als eine Fußball-WM zu gewinnen!"

Wilfried Mommert, Berlin

1001 Nacht

Was sollen Gesten wie Armbinden oder Mund zuhalten retten, wo alles dem Ziel der Profitmaximierung dient? Nahezu die Hälfte der Nationalmannschaft spielt für einen Verein, der von einem katarischen Konzern gesponsert wird, und verdient dort prächtig Geld. Thomas Müller, Manuel Neuer und die anderen beißen nicht in die Hand, die sie füttert.

Der Profifußball schaffte es bisher, in Deutschland sein Image als Sportevent für alle zu pflegen (vor allem die Vereine im Ruhrgebiet untermauern ihre Bodenständigkeit mit dem "Kohle-und-Stahl-Image"). Angesichts der derzeitigen Krisen ist diese Seifenblase der Widersprüchlichkeiten ausgereizt. Sie wird bei der WM nicht mehr zu verbergen sein und hoffentlich platzen. Die Märchen aus 1001 Nacht, die uns die Organisatoren in einem Land auftischen wollen, das sich den schönen Schein offenbar mit dem Blut von Menschen erkauft hat, ist die Klimax in der Reihe von Sportereignissen wie Olympischen Spielen und Formel 1, die Konzernen und Staaten als Werbe- und Verkaufsplattform dienen. Jeder Versuch, etwas zu vertuschen, wird in einer digitalisierten Welt, in der die schnelle Verbreitung von Informationen sehr lukrativ ist, immer weniger funktionieren.

Oliver Schulze, Detmold

Unwort des Jahres

Kann mir bitte jemand noch mal den Wertekanon unseres ach so christlichen Abendlandes aufschreiben? Damit wir ihn alle Weihnachten unterm Tannenbaum singen können. Ganz ehrlich, das Wort "Werte" hat bei mir langsam die Chance, zum Unwort des Jahres zu werden. Denn wir lassen sie im Mittelmeer ersaufen, zerrasen sie auf der Autobahn, verraten sie täglich im Umgang mit lästigen Mitmenschen, bezahlen sie schlecht, wenn's um den eigenen Profit geht, ignorieren sie durch eisernes Wegschauen, nehmen Armut und Obdachlosigkeit in Kauf, lassen sie im Mund von Politikern schal werden, beschummeln uns mit Notlügen und lassen die Werbung Werbung dafür machen. Aber ein Stück Stoff am Arm von karrieregehetzten Fußballjungs soll unsere hehre Gesinnung mal so richtig deutlich machen? Ach, Leute.

Gerlinde Gropper, Aschau i. Chiemgau

Geste des Respekts

Die SZ erwähnt den Postkolonialismus. Ich würde ergänzen: Unsere Sichtweise auf Katar ist neokolonialistisch. Die erste WM, die in einem arabischen Land stattfindet, wird von uns mit Geringschätzung überflutet. Wie wirkt das wohl auf all die, die dort leben und stolz sind, eine WM austragen zu können? Ich werde mir die Spiele ansehen, ich halte es für eine Geste des Respekts gegenüber der arabischen Kultur, diese WM ernst zu nehmen. Dabei gedenke ich der toten Gastarbeiter ebenso wie der toten Geflüchteten am Evros und im Mittelmeer - europäischer Todesopfer wohlgemerkt.

Florian Fritz, Aying

Strikt boykottieren

Vor dem ersten Anpfiff der WM war ich bereits entschlossen, nicht einzuschalten. Dann diese Bombe, Saudi-Arabien schlägt Argentinien, Australien führt gegen Frankreich, die Berieselung dringt durch das ethische Dach... und schon drückt man doch auf die 214 Millionen Euro teure Taste für das ZDF. Auf diesen Mechanismus setzen die Fifa und ihre Kollaborateure. Nele Pollatscheks Beitrag kam gerade noch rechtzeitig; diese Mammon-Schau werde ich jetzt strikt boykottieren. Sollten es die mutig nicht singenden Iraner ins Finale schaffen, mache ich eine Ausnahme.

Äußerungen wie die von Thomas Müller, "der Traum jeden Sportlers ..." et cetera, lassen für die Zukunft nichts Gutes ahnen, wenn Fifa und IOC großrussische Teams wieder zu ihren Veranstaltungen einladen werden. Die Ukraine leider nicht, da in ihren Stadien der Strom weg ist.

Michael Seitz, München

Verstoß gegen eigene Statuten

Die Fifa verstößt gegen ihre eigenen Statuten, wenn sie nicht konsequent gegen Diskriminierung vorgeht. Insofern ist Protest dagegen unabdingbar. Leider haben die sieben europäischen Nationalverbände die Chance verpasst, ein Zeichen zu setzen. Man hätte mit der "One Love"-Binde auflaufen müssen. Hätte die Fifa Sanktionen verhängt, hätte man gemeinsam das WM-Turnier verlassen müssen. Die laut Infantino beste und schönste WM aller Zeiten wäre damit zur Farce geworden. Infantino hätte das wahrscheinlich den Job gekostet. Viel spricht dafür, dass die Fifa dann das Tragen der "One Love"-Binde toleriert hätte.

Manfred Peter, Hannover

Pure Feigheit

Es gibt im Deutschen viele Begriffe für Feiglinge, vielleicht weil es bei uns so viele davon gibt. Am besten gefallen mir: Duckmäuser oder Hasenfuß. Zur deutschen Nationalmannschaft fällt mir momentan auch Kneifer, Leisetreter und Maulhalter ein. Wollte der DFB nach dem "One Love"-Verbot nicht ein Zeichen setzen für die Nichtverhandelbarkeit von Menschenrechten? Pustekuchen. "Uns die Binde zu verbieten, ist wie den Mund verbieten. Unsere Haltung steht", hieß die Botschaft zum Mannschaftsfoto mit den Händen vor den Mündern.

Wer je die drei Affen mit Augen zu, Ohren zu und Mund zu gesehen hat, weiß, was damit ausgedrückt wird: Ich hab mit der Sache nichts zu tun: Ich schau nicht hin, ich nehm nicht wahr, ich sag dazu nichts. Sich den Mund zuzuhalten, steht hier offenkundig für Selbstentmündigung. Künftig sollte in jeder Fassung von Immanuel Kants Essay "Was ist Aufklärung?" neben seiner Definition von Unmündigkeit dieses Teamfoto stehen. Alle Versuche, den symbolischen Akt als Zivilcourage zu verkaufen, werden hoffentlich scheitern. Das Foto steht für Selbstzensur von Jungmillionären, die nichts gewagt haben, die kein Risiko eingegangen sind. Es ist ein billiges Feigenblatt. Fast möchte man den Begriff des Fremdschämens verwenden, wenn der nicht schon so abgegriffen wäre. Es ist: pure Feigheit.

Dr. Helmut Däuble, Stuttgart

Chance auf Neuanfang vertan

Überhöhen wir nicht die Schweigeaktion der iranischen Fußballnationalmannschaft beim Abspielen der Nationalhymne ihres Landes. Sie hatte sich drei Tage vor Turnierbeginn mit Irans Präsident Ebrahim Raisi eingelassen. Verstecken wir nicht dahinter das Versagen des europäischen Fußballs. Infantino drohte vage - und alle sind eingeknickt. Dabei wäre die Chance da gewesen, das System Fifa, für welches das Wort "korrupt" eine Beschönigung darstellt, zu sprengen. Hätte man mit Charakter und Rückgrat ausprobiert, was passiert wäre, wenn die Mannschaftskapitäne mit der "One Love"-Binde aufgetreten wären - vielleicht wäre es zum Eklat gekommen, zum Ende des Turniers sogar? Aber mit der Chance zum Neuanfang einer neuen Fifa. Mit mutigen Frauen an der Spitze wie der Norwegerin Lise Klaveness, die schon lange die Missstände in Infantinos bestechlichem Altherrenklub anprangert - denn im internationalen Fußballverband haben sich kleptokratische Strukturen, Nepotismus und Korruptionswilligkeit herausgebildet, die demokratisch strukturierten Organisationen zuwiderlaufen.

Die Fußball-WM in Katar könnte nicht nur Höhepunkt dieses Treibens sein, sondern auch der Anfang eines werteorientierten, demokratisch organisierten weltweiten neuen Fußballverbandes. Ohne eine testosterongeschwängerte Altherren-Machtelite an der Spitze.

Josef Gegenfurtner, Schwabmünchen

Neues Vergabesystem

Wo waren die kritischen Stimmen, als bekannt wurde, dass sportliche Großereignisse an Russland, Brasilien oder Südafrika vergeben wurden? Diejenigen, die sich heute vehement gegen Katar äußern, blieben damals stumm. Sind die drei Länder lupenreine Demokratien, ohne Korruption oder Verletzung der Menschenrechte? Natürlich nicht, sie sind aber groß und mächtig und repräsentieren mehr als 500 Millionen Menschen. Demgegenüber hat Katar nur etwa drei Millionen Einwohner. Die unterschiedliche Behandlung der Länder erklärt sich nur aus dem Machtfaktor.

Mit Russland legt man sich weniger gerne an als mit dem winzigen Katar (trotz Energievorkommen). Das ist an Scheinheiligkeit und Verlogenheit kaum zu überbieten. Während wir den Moralapostel geben, vergessen wir gerne, unter welchen Umständen 2006 die WM nach Deutschland geholt wurde. Überhaupt sollten wir uns die eurozentrische Sicht auf den Fußball abgewöhnen: Bei 200 Fifa-Mitgliedern aus völlig unterschiedlichen Kulturkreisen kann man kein einheitliches Wertesystem erwarten. Der Wunsch nach möglichst vielen Mitgliedern bedingt die Akzeptanz von uneinheitlichen Bedingungen.

Das Dilemma bei der Vergabe wäre nur auflösbar, wenn neue Kriterien gälten. Am einfachsten wäre es, wenn der Gewinner die nächste WM ausrichten würde. Damit entfielen Korruptionsmöglichkeiten, Erste-Klasse-Flüge, Fünf-Sterne-Hotels, Dienstessen und Empfänge, die die Funktionärsschicht über alles liebt. Die Geldgier, die den Fußball langfristig ruinieren könnte, wäre eingeschränkt.

Günter Ihlau, Burgwedel

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SZ/cb/soy
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