Krieg in der Ukraine:Über die Wege zum Frieden

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(Foto: Karin Mihm (Illustration))

Der Historiker Peter Brandt hat einen Appell für Frieden veröffentlicht. In der SZ antwortete Gerhart Baum. Nun tragen SZ-Leserinnen und -Leser zur Diskussion bei.

"Manchmal muss man verhandeln, um überhaupt zu Verhandlungen zu finden" sowie "Der Krieg und das Unbehagen", beides vom 29./30. April/1.Mai, und "Vom Frieden" vom 6. April, :

Freiheit und Gerechtigkeit

Am 1. April veröffentlichte Peter Brandt den Appell "Frieden schaffen" zum Ukraine-Krieg in der Berliner Zeitung. Viele bedeutende Politiker und Gewerkschafter, Persönlichkeiten aus der Kirche und der Gesellschaft unterstützen diesen Aufruf. Im Gastbeitrag vom 6. April äußert Gerhart Baum (FDP) schließlich seine Meinung, dass zu Frieden unbedingt auch Freiheit gehört und in einem unlösbaren Zusammenhang steht. Er hat recht. In dem Appell geht es allerdings um Frieden, der die Voraussetzung für Freiheit ist. Genauso wie es auch keine Freiheit für alle ohne Gerechtigkeit gibt. Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit müssen in Friedensverhandlungen für alle Kriegsbeteiligten zum Ausgleich gebracht werden. Ein erster Schritt ist die Forderung, einen Waffenstillstand und Verhandlungen zu erreichen. Wartet man darauf, bis einer der Beteiligten militärisch stark genug ist, seine Interessen durchzusetzen, geht das Töten weiter, und die Fronten verhärten sich immer mehr.

Ich werfe Russland vor, nicht alle friedlichen Möglichkeiten ausgeschöpft zu haben und einen Angriffskrieg zu führen. Vom Westen bin ich enttäuscht, dass die friedlichen Ansätze in den Verträgen von Minsk nicht ehrlich gemeint waren. Angela Merkel sagte in einem Zeit-Interview, dass man der Ukraine nur Zeit verschaffen wollte, stärker zu werden. Mir stellt sich die Frage: Folgen viele westliche Politiker und Medien dem ukrainischen Wahlspruch "Ruhm der Ukraine"? Gerhart Baum schreibt, die Aufgabe sei, "Frieden und Freiheit zu schaffen". Ziel sollte sein, eine gerechte Friedenslösung in Freiheit zu finden.

Gisela Jäger, Grafrath

Geschichtsschwurbelei

Ein detaillierter Blick auf Peter Brandts Argumentationsgrundlage zeigt in meinen Augen, weshalb sein Friedensappell wenig ernst zu nehmen ist. Im März veröffentlichte er zusammen mit Michael Müller und Reiner Braun in der Zeitschrift Aus Politik und Zeitgeschichte den Aufsatz "Frieden schaffen", womit er zu einem "gemeinsamen Nachdenken" anregen will. Er plädiert für Aufklärung und Vernunft, geschaffen unter anderem durch Geschichtsdarstellung.

Die Herausgeber der Zeitschrift wollen "konstruktiven Streit in einer liberalen Demokratie" fördern. Doch was Brandt und seine Mitautoren hier tun, ist in meinen Augen über weite Strecken unwissenschaftliche und zynische Geschichtsschwurbelei - polemisch, populistisch und perfide. "Die Entwicklungsprozesse, die zu dem bewaffneten Konflikt geführt haben", sollen dargelegt werden, so Brandt. Die Schuldigen stehen aber bereits fest: der Westen und die Ukraine - auch wenn Putin als Aggressor, der die Ukraine als Anti-Russland begreift, benannt wird.

Im mittleren Teil des Aufsatzes werden über Seiten hinweg Behauptungen aufgelistet, die zum Teil wirr in Zusammenhang gebracht werden. Dieser Teil lebt von Einseitigkeiten, extremen Verkürzungen, geschickten Auslassungen und unerträglichen rhetorischen Kniffen. Der erste wissenschaftliche Beleg eines Historikers steht auf der fünften Seite: Ein Aufsatz von Peter Brandt selbst, erschienen auf globkult.de, wo sich unter anderem alle möglichen Verschwörungstheoretiker äußern dürfen. Brandt muss sich fragen lassen, wo er publiziert und den Vorwurf gefallen lassen, dass er sich selbst recycelt. Über Seiten hinweg gibt es keinen einzigen Beleg durch eine Expertin oder einen Experten aus der Osteuropageschichte, Politikwissenschaft, aus dem Völkerrecht, der Soziologie, Ökonomie oder Friedens- und Konfliktforschung.

Einige Beispiele von Brandts merkwürdigen Darstellungen und Schlussfolgerungen möchte ich nennen: Die Mär des NATO-Versprechens, der macht- und geldgierige Westen, der seinen Einfluss nach 1990 nach Osten ausdehnte und mittlerweile bellizistische Gesellschaften hervorgebracht hat; die NATO und die USA, welche permanent den OSZE-Prozess torpedieren; die Demokratiebewegung in der Ukraine, das Brudervolk Russlands, welches in sich zerrissen und korrupt ist, und nicht versteht, dass Minsk II nicht Russland bevorteilte und alleinig schuld ist an dessen Scheitern; und schließlich der korrupte und blockierende Selenskij. Zwei Drittel seines Aufsatzes kommen abgesehen von Hinweisen zu historischen Dokumenten und zu drei Zeitungsartikeln ohne wissenschaftliche Belege aus. Ich unterrichte Englisch und Geschichte an einem bayerischen Gymnasium. Würde mir eine Schülerin oder ein Schüler ein solches Papier abliefern, würde ich es ihr oder ihm salopp gesagt "um die Ohren hauen".

All dem gegenüber steht das beklagenswerte und hilflose Russland, das dem Westen über Jahrzehnte Friedensangebote zur Sicherung Europas gemacht hat und nun "mit harten Sanktionen belegt wird, während die Waffenlieferungen in die Ukraine [...] massiv ausgeweitet" werden. Fast entsteht das Bild von Putin, dem Friedensengel. Seine Kriege gegen Tschetschenien und Georgien, mit denen er den OSZE-Prozess mit Füßen trat, werden nicht erwähnt, auch nicht, dass er 2014 den Krieg in der Ostukraine begonnen hat und die Annexion der Krim völkerrechtswidrig ist. Kein Wort dazu, dass er verschiedensten Friedens- und Sicherheitsformaten und Abkommen den Rücken gekehrt hat, weil seine aggressiv nationalistische und imperialistische Agenda mit ihnen nicht vereinbar ist: Helsinki (1975), Paris (1990), NATO-Russland Rat (ab 1991) und schließlich das Budapester Memorandum (1994).

Brandt plädiert für Friedensinitiativen, klärt aber in seinem Aufsatz nicht, wie diese im Detail aussehen können. Er zählt lediglich verschiedene Vorschläge auf und wirft der Ukraine vor, die Gespräche im März 2022 seien an ihr gescheitert - und natürlich am Westen. Kein Wort zu Putin und seinen roten Linien.

Kerstin Schlager, Königsdorf

Da war noch was

Auf die Argumentation von Herrn Brandt, dass "zumindest die angelsächsischen Länder die Situation in der Ukraine und um sie herum seit etwa zwei Jahrzehnten mit verschärft (haben)", kommt vom SZ-Interviewer der Einwand: "Moment, die USA und Großbritannien haben kein Land überfallen." Den Irak-Krieg (2003), Afghanistan (2001), den Kosovo-Krieg mit der Bombardierung Belgrads (1999), alles "Konflikte" mit vielen hunderttausend zivilen Opfern, hat er irgendwie übersehen oder vergessen. Warum Peter Brandt es versäumt hat, diese Unwahrheit zu korrigieren, ist mir unverständlich.

Helmut Wagner, Olching

Verhandlungen aufnehmen

Dieser Krieg ersetzt kluge diplomatische Politik. Es ist ein Armutszeugnis der westlichen Wertegemeinschaft, zu den gleichen Mitteln der Gewalt zu greifen wie der Aggressor. Eine nüchterne Bilanz der massiven Aufrüstung mittels Waffenlieferungen für die ukrainische Zivilbevölkerung: weiter Zerstörung von Hab und Gut sowie lebenswichtiger Infrastruktur. Menschen werden getötet beziehungsweise zur Flucht gezwungen. Freiheit und Menschenwürde können nur durch sofortige Beendigung der Kriegshandlungen und Aufnahme von Friedensverhandlungen geschützt werden.

Annette Hund, Berlin

Befremdlicher Wandel

Vor 40 und 50 Jahren lieferten der Vietnamkrieg, die US-Unterstützung für Militärdiktaturen und die Vorstellung von einem Atomkrieg vielen Menschen - und so auch mir - Anlass zum Protest unter der Fahne einer Friedensbewegung. Dass unter dieser Fahne so mancher gefeierte Kabarettist mit schöner Gitarrenbegleitung recht brav die Sprüche der DDR-Propaganda intonierte, übersah man gerne.

Wer aber heute immer noch mit Vulgärmarxismus aus dem SED-Erbe alles Übel auf der Welt mit dem "Imperialismus" der USA, der Nato, der BRD und natürlich Israels erklärt, beweist mehr Glaubenseifer als politischen Überblick. Auch hat der Pazifismus sein Gesicht befremdlich gewandelt, wenn seine erste Sorge angesichts eines Angriffs- und Eroberungskrieges den schützenswerten Motiven des Aggressors gilt.

Nur peinlich ist die ständige Bezugnahme auf die von Willy Brandt geprägte Entspannungspolitik. Er war zu Zeiten von Berlin-Ultimatum 1958 und Mauerbau 1961 Regierender Bürgermeister von Berlin. Er war zur Zeit des sowjetischen Einmarschs in die Tschechoslowakei 1968 Bundesaußenminister. Er war zur Zeit des sowjetischen Angriffs auf Afghanistan 1979 SPD-Vorsitzender. Er hat zu jeder dieser Aktionen klare Worte gefunden. Die ängstliche Sorge, "der Westen" habe Chruschtschow, Breschnew oder Ulbricht vielleicht zuvor einmal gekränkt, kam darin nicht vor.

Andreas Knipping, Eichenau

Für mehr Diplomatie

Russland als gleichwertigen Gesprächspartner zu akzeptieren, das ging manchem Politiker zu weit. Ich entschuldige den Angriffskrieg nicht, aber ein Blick in die Geschichte der letzten 30 Jahre scheint mir unabdingbar, um einen Schritt in Richtung Verständnis der russischen Position verständlich zu machen. Das sehe ich als Grundvoraussetzung dafür, mit Russland in ein Gespräch einzutreten und den Krieg zu beenden - ohne weitere Kriegsverbrechen und -opfer. Reiner Braun und Peter Brandt stehen in meiner Wahrnehmung dafür, nichts unversucht zu lassen, um das kriegerische Morden zu beenden. Dazu gehört auch, an der Glaubwürdigkeit westlicher Gesprächspositionen zu arbeiten. Der Westen hat zeitweise sehr wenig dafür getan, glaubwürdig zu sein.

Einwurf der SZ im Gespräch mit Peter Brandt: " Die USA und Großbritannien haben kein Land überfallen". Ob die USA nun indirekt politische Systeme wie die demokratisch gewählte Regierung Irans 1953 eliminieren ließen oder in jüngerer Vergangenheit nach präsidialen Lügen direkt Länder überfielen, ist nebensächlich. Bitte, lassen wir doch endlich die Hinweise auf unsere Wertewelt, unsere moralische Überlegenheit. Das löst bei mir geradezu körperliches Unbehagen aus.

Kriege sind immer ein Verbrechen. Deshalb müssen westliche Regierungen alles versuchen, dieses Morden zu beenden. Und das nicht durch mehr und bessere Waffen, sondern durch Gespräche. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt, wenn die Aktienkurse waffenproduzierender Unternehmen schnell steigen.

Im Moment scheint es sehr einfach, Massen hinter sich zu versammeln mit der Forderung, Putin zu verurteilen und immer neue Gelder für die Fortführung des Krieges von westlicher Seite bereitzustellen. Ich verlange von westlichen Diplomaten, alles, was sie gelernt haben, auf den Weg zu bringen, zumindest das Morden auf dem Gebiet der Ukraine zu beenden. Moralische Überheblichkeit, ohnehin mehr als grundlos, sollte allerdings zum diplomatischen Instrumentarium nicht gehören. Wer das bemüht, reiht sich ein in die Propagandisten von Religions- und ideologisch begründeten Kriegen.

Cornelia Burkert-Schmitz, Sulzbachtal

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