Armut:Wie leicht ein Lebensplan scheitert

Armut: Harald N. lebt am Existenzminimum. Er muss die Angebote vergleichen, um über die Runden zu kommen.

Harald N. lebt am Existenzminimum. Er muss die Angebote vergleichen, um über die Runden zu kommen.

(Foto: Catherina Hess)

Erstaunliche Reaktionen auf eine SZ-Reportage über einen Hartz-IV-Empfänger - von Schuldzuweisungen bis hin zur Einladung ins "Tantris" und einem mit Freunden gekauften neuen Herd.

"Es geht um die Wurst" vom 13. Juli:

Schöner Batzen Geld

Es ist schon erstaunlich, über welche Menschen mittlerweile Mitleid ausgegossen wird. Da hat sich ein Zeitgenosse ein Leben lang jegliche Sozialabgaben erspart, was ja über 40 Jahre hinweg ein schöner Batzen Geld ist. Nun ist er mittellos, besser gesagt: geplant mittellos, bekommt aber das Dach über dem Kopf vom Sozialamt bezahlt und dazu noch 440 Euro "Bedarfsgelder". Anstatt die Frage nach den Motiven zu stellen, warum er sich geweigert hat, sich an den sozialstaatlichen Wohltaten in seiner aktiven Zeit zu beteiligen, wird in einer schier endlosen Suada unser Mitgefühl geweckt. Hat die Autorin mal darüber nachgedacht, wie viele Beitragszahler sich jahrzehntelang krummlegen müssen, um die fehlenden Mittel zu erwirtschaften, die Harald N. offenkundig gewissensfrei verbraucht und dabei auch noch das bedauernswerte Opfer spielt. Es ist schlichtweg empörend.

Martin Köhl, Bamberg

Das schwächste Glied in der Kette

Der Artikel hat mich zum Nachdenken gebracht. Er beschreibt am Beispiel von Herrn N. die Situation in unserer Gesellschaft. Ich habe am Tag danach gemerkt, dass ich so einen Bericht lese und dann leider zur Tagesordnung zurückkehre - keine Reaktion, keine Aktion von mir, nur Betroffenheit, das wars. Herr N. ist selber schuld, sagen einige, hätte er doch vorgesorgt - mag sein. Viele in unserer Gesellschaft verschließen die Augen und schauen weg. Dieses Problem ist aber viel größer, als viele wissen wollen, und kommt in naher Zukunft noch verstärkt auf uns zu: Viele der derzeit 3,5 Millionen Hartz-IV-Empfänger kommen bald ins Rentenalter. Sind die alle selber schuld?

Bei Herrn N. lief eben vieles schief - ich kann da nicht einfach wegschauen. Mir (75) ging es ein Leben lang sehr gut, und ich habe das Glück, dass alles funktioniert hat: Familie, Gesundheit, Beruf, Finanzen. Ich konnte "was zurücklegen", bei zehn Euro Stundenlohn als Kurierfahrer geht das nicht. Immer billiger soll die Ware sein, die wir im Internet bestellen, Herr N. als Kurierfahrer war das schwächste Glied in der Kette, da wird gespart, die Paketgebühr darf ja nix kosten. Gesellschaft und Politik sind gefordert, wir müssen unser Gesellschafts- und Wirtschaftsmodell überdenken, das oft zitierte "Arbeit muss sich lohnen" ist aktueller denn je.

Hans Höfinger, Otterfing

Rechnung ist nicht aufgegangen

44 Jahre Berufstätigkeit als selbständiger Kurierfahrer, ohne einen Pfennig in die Sozialkasse einzuzahlen, das nenne ich nicht optimistisch, sondern riskant. Jetzt lebt Harald N. mit staatlicher Hilfe in einer Zwei-Zimmer-Wohnung in Schwabing und hat 440 Euro monatlich zum Leben. Das Geld reicht ihm dank sparsamer Lebensfüh­rung sogar noch zum Erhalt eines Kleinwagens. Viel mehr Mittel hätte er vermut­lich nicht zur Verfügung, wenn er regelkonform seine Beiträge zur Rentenversicherung geleistet hätte. Chapeau.

Vielleicht bin ich zu empfindlich, wenn ich im Tenor des Beitrags eine kleine Anklage heraus­höre über die prekären Verhältnisse, in denen Harald N. zu leben hat, wenn da steht, dass er mit 440 Euro auskommen müsse. Ich fände es besser herauszustellen, dass in unserem Land keiner seinem Schicksal überlas­sen wird, auch wenn er durch eigenes Fehlverhalten in Not gerät. Ich bin stolz darauf, einem System anzugehören, das sich diese Großzügigkeit leisten kann.

Wilhelm W. Funk, München

Einladung ins Tantris

Ich bin sehr beeindruckt von Harald N.. Ein Mensch, der sein Leben lang hart gearbeitet hat und jetzt nicht aufgibt, sondern weiter kämpft. Ich möchte Herrn N seinen Lebenstraum erfüllen und ihn ins Tantris einladen. Guten Appetit!

Maria Muchenberger, Freiburg

Selbst verschuldet

Der im Artikel beschriebene Herr hat seine jetzige Situation selbst verschuldet. Wem Rentenbeiträge zu teuer erscheinen, der geht von der Unterstützung durch das Sozialamt (also der Allgemeinheit) aus. Auch in meinem persönlichen Umfeld gibt es diese Beispiele nach dem Motto: Wie blöd kann man sein und das Geld in eine zukünftige Rente investieren? Selbstverständlich ist das Leben am Existenzminimum mühsam, aber da diese Lage selbstverschuldet ist, erscheint mir gerade das Beispiel dieses Herren als völlig unpassend. Da gibt es meines Erachtens weit mehr Personen, die unverschuldet durch persönliche Schicksalsschläge, Pflege behinderter Angehöriger oder, traurig genug, als Mutter vieler Kinder nichts oder kaum in die Rentenkasse einzahlen konnten.

Barbara Radjeb, Springe

Ein neuer Herd - und Demut

Mir ist einmal mehr bewusst geworden, wie glücklich ich mich schätzen kann, dass ich gesund bin, arbeiten und in München gut leben kann. Auch ich bin selbständig und weiß, wie viel erst einmal für die Krankenversicherung und Altersvorsorge aufzubringen ist.

Einige der Reaktionen, die ich zum Artikel auf Social Media gelesen habe ("soll er halt arbeiten gehen", "sowas finanziere ich nicht mehr"), ließen mich wahrlich kopfschüttelnd zurück. Wie einfach, eine kurze Botschaft online zu stellen, wie verachtend, diese Kälte, die aus manchen Kommentaren sprach.

Umso mehr freue ich mich, dass ich gemeinsam mit meinem Mann und zwei Freunden einen neuen Herd für Harald N. gekauft habe. Dabei hatte ich auch Gelegenheit, N. kennenzulernen und traf auf einen Menschen, der sein Schicksal meistert und mich einmal mehr gelehrt hat, demütiger zu sein.

Kerstin Ventroni, München

Echte Armut sieht anders aus

Echte Armut sieht anders aus. Was meinen Sie, wie viele Alleinerziehende mit prekären Teilzeitstellen (über)leben, die gar nicht die Zeit haben, sich "hauptberuflich" mit Sonderangeboten und Tafel-Ansteherei zu beschäftigen? Oder junge Menschen, die gar nicht die Möglichkeit hatten, vorzusorgen und durch Krankheit oder Unfall in die Armut gestoßen wurden? Über diese Art der Armut und deren Ursachen zu berichten, wäre sehr wichtig.

Der Betroffene, der anscheinend lebenslang nicht bereit war, Rentenbeiträge zu entrichten (und damit solidarisch auch die materielle Situation anderer zu verbessern) oder wenigstens privat vorzusorgen, muss sich jetzt mit Sozialhilfe begnügen. Was ist an diesem persönlichen Versäumnis interessant?

Bei den Ausgaben sind Autoversicherungsbeiträge aufgeführt. Wenn jemand zentral in Schwabing wohnt und sich einen Pkw leisten kann, ohne ihn beruflich zu brauchen, spricht viel dafür, dass es ihm nicht so schlecht gehen kann. Ein Auto zu haben, aber über den alten Herd zu jammern, ist peinlich. Auch die 39,95 Euro für den Internetzugang zeigen, dass Harald N. sich gerne was gönnt, in diesem Fall einen recht leistungsfähigen Anschluss. Ein für den Hausgebrauch absolut ausreichender 16-MBit/Sekunden-Anschluss kostet aktuell 22 Euro.

"Seinen Kühlschrank stellt er immer nur auf Stufe 1,5, Steckerleisten schaltet er nachts ab. Er duscht nur kurz und im Sommer lauwarm." Was hat das mit Armut zu tun, das ist einfach nur vernünftig. Angesichts der gekauften, bei der Tafel geholten und in der Wohnung gelagerten Mengen würde ich eher vermuten, dass Harald N. seinen Lebensinhalt darin sucht und findet, Lebensmittel und (früher) Wein zu besorgen und große Vorräte anzulegen, als dass echte Not dahinter steckt. Not kann sich nicht leisten, so viele Lebensmittel so lange aufheben zu können (wer so viel auf Lager hat, dass ihm ein Rotkohlbeutel erst nach 9 Jahren auffällt...).

Willibald Hagl, München

Überraschung des Lebens

Mich hat die Geschichte von Harald N. sehr berührt. Haben wir nicht alle einen Lebensplan und denken, dass er sich genauso erfüllt? Dann kommt es anders, man wird krank oder das Leben hat eine andere Überraschung parat. Und plötzlich steht man vor großen finanziellen und persönlichen Herausforderungen. Harald N. geht mit seinen finanziellen Mitteln sorgfältig um - er kann sogar noch etwas zur Seite legen. Ich wünsche ihm sehr, dass er sich bald einen Herd kaufen kann, damit die Kosten für die Stromrechnung sinken und er danach auf seinen Mallorca-Traum sparen kann.

Ute Palmer, München

Strenge mit den Ärmsten der Armen

Es geht um mehr als die Wurst, nämlich um die Sicherung des sozialen Friedens für die ganze Gesellschaft. Was über den monatlich mit 440 Euro sogenannter Sozialhilfe jonglierenden Überlebenskünstler berichtet wurde, ist nur die beste, schönste, erfolgreichste Seite der traurigen Realitätsgeschichte. Viele alte, weniger gesunde oder gar behinderte Hartz-IV-/Grundsicherungsempfänger, die oft nur über wenig Kraft und kaum Leistungsfähigkeit verfügen und (zudem) auf mobile Hilfsmittel wie Rollstühle angewiesen sind, können die Tafeln nicht erreichen und somit dieses Hilfsangebot nicht selbstständig nutzen. Der gesellschaftlich stillschweigend tolerierte Ausschluss von sozialgerechten Teilhabemöglichkeiten dieser von Armut besonders hart Betroffenen ist deswegen in der Öffentlichkeit kaum sichtbar. Und erscheint auch nicht in den Statistiken der Tafeln.

Behörden scheuen bei den (hilflosen) Ärmsten der Armen und ihrem Existenzminimum selbst in Pandemie-/Inflationszeiten nicht vor Sanktionen zurück. Amtliche Drohungen mit einem kurzfristig angekündigten, (wegen angeblich fehlender Mitwirkung) vollständigen Entzug der 440-Euro-Sozialhilfeleistung gibt es weiterhin.

Annette Gümbel-Rohrbach, München

Schicksal in die Hand genommen

Ich ziehe meinen Hut vor Harald N.. Ich selbst bin nur wenig jünger, war auch selbstständig - und hatte das notwendige Glück. Wie schnell es gehen kann, dass man unverschuldet in eine Notsituation gerät, sieht man an seinem Beispiel. Seine Reaktion auf die neue Situation hat mich tief beeindruckt. Da kommt kein Jammern oder Schuldzuweisung an andere. Er übernimmt in der Krise Verantwortung für sich selbst. Unter diesen Umständen, in denen er nun lebt, ist das keine Selbstverständlichkeit.

Niemand hofft, dass ihn so ein Schicksal ereilt, aber jeder kann sich Harald N. als Vorbild nehmen, wie man damit umgehen kann. Vielleicht machen wir uns seine Geschichte einmal bewusst, wenn wir uns über die Schlange am Flughafen oder über die Wartezeit für den Aperol Spritz beschweren? Alles Gute, Herr N.!

Erhard Bieber, Bad Aibling

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