Merkels Memoiren:Nachher sind natürlich alle schlauer

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(Foto: SZ-Zeichnung: Karin Mihm)

An ihrem Buch vermissen einige Leser Selbstkritik. Manche erinnern aber auch daran, dass im demokratischen Teamspiel eine Kanzlerin nie alleine an allem Schuld trägt.

„Oder man lässt es halt bleiben“, „Die Édith Piaf aus der Uckermark“ und „So viele Seiten“ alle vom 30. November/1. Dezember, „Ich bereue nichts“ vom 28. November, „Merkels Mängel“ vom 27. November und „Die Sphinx bleibt sich treu“ vom 26. November:

Ohne Selbstkritik

Es war nicht zu erwarten, dass von Altkanzlerin Merkel auch nur ein Hauch von Selbstkritik geäußert wird. Im Gegenteil – wie ein trotziges Schulmädchen erklärt sie dem ausgewählten Publikum, welches an ihren Lippen klebt, dass für sie „das klar war, was andere noch nicht mitgekriegt haben“. Mehr Arroganz geht nicht. Es darf bezweifelt werden, ob 740 Seiten Selbstbeschwörung reichen, um zum internationalen Bestseller zu werden.

Überhaupt ist auffällig, dass die Altkanzlerin offenkundig „Männerprobleme“ plagen. Gönnerhaft erteilt sie ihrem Widersacher Merz ihr „Einverständnis“, Kanzler werden zu wollen, und im Spiegel erklärt die Frau, die sich mit Alphamännchen auskennt, dass Regierungsdramen eben unzweifelhaft „Männern“ zuzuordnen sind.Selbstverständlich ist auch, dass bei der Vorstellung der Autobiografie Fragen aus dem Munde einer Frau – Anne Will – zu stellen sind, und einen Tag später Maybrit Illner die gleichen Fragen noch einmal stellen darf. Einen männlichen Fragesteller wollte sich Frau Merkel dann doch lieber nicht zumuten.

Es bleibt ein übler Geschmack nach dem Auftritt einer mit Ehrenurkunden ausgestatteten Ex-Kanzlerin, die – wie Henrike Roßbach zu Recht feststellt – offenkundig nicht wahrhaben will, dass die Krisen der Gegenwart auch ihre Wurzeln in der Vergangenheit haben und Frau Merkel auch Teil der heutigen Probleme ist.

Selbstkritik ist ein Zeichen von Stärke, welches von führenden Persönlichkeiten eines Staates erwartet werden darf, insbesondere, wenn hohe moralische Ansprüche als Benchmark für eigenes politisches Handeln angesetzt werden. Nach dieser Selbstinszenierung sowie der Benennung des eigenen Buches als „Schmuckstück“ darf sich Frau Merkel darauf einstellen, dass die Anzahl ihrer Kritiker weiter wachsen wird und sich AfD- und BSW-Sympathisanten auf die Schenkel klopfen.

Jan-Patrick Jarosch, München

Klima-Versagen

Wo ein Lehrer wie Sigmar Gabriel oder ein Jurist wie Barack Obama nur vages Verständnis vom Ernst der Lage hatten und immer wieder vor den Öl-Multis kapitulierten, hätte die Physikerin und vormalige Umweltministerin begreifen und als Kanzlerin handeln müssen. Und das als Wissenschaftlerin sogar deutschen Wählerinnen und Politikern weltweit erklären können. Vielleicht sogar uns alle gemeinsam mit „Sweat and tears“-Reden zu einer Wende motivieren, die diesen Namen verdient hätte. Nichts davon geschah.

Nichts dazu auch in Ihrer Merkel-Bilanz zur Buchvorstellung und unter „Merkels Mängel“ im Leitartikel von Stefan Kornelius. Dass (Boomer?-)Medien wie Spiegel und Süddeutsche zum Fazit einer 16-jährigen Kanzlerschaft den „Hört auf die Wissenschaft!“ rufenden jungen Leuten keine einzige Zeile widmen, freut die Klima-Schwänzer von Kyoto bis Baku und ist ein Schlag ins Gesicht der Generationen, die Merkels Versagen als „Klima-Kanzlerin“ ausbaden werden.

Theo Schneider, Feldkirchen-Westerham

Nachher sind alle schlauer

Nach der Veröffentlichung ihres Buches „Freiheit – Erinnerungen 1954 bis 2021“ wird die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel unter anderem von vielen Journalisten und Journalistinnen kritisiert – in der Demokratie ein ganz normaler Vorgang. Dabei stellt die Lieferung von billiger Energie wie Öl und Gas im Zusammenhang mit der großen Abhängigkeit von Russland einen besonderen Kritikpunkt dar. Bei objektiverer Betrachtung könnte allerdings auch folgendes Ergebnis stehen: Für Wirtschaft und Gesellschaft war die billige Energie aus Russland ein Garant für den stetigen Erfolg.  Zudem waren auch von den Menschen (vox populi) keine Einwendungen gegen die günstigen russischen Lieferungen zu hören. Dass im Nachhinein dann alles sehr viel leichter beurteilt werden kann, ist eine Binsenweisheit.

Josef Draxinger, Vohburg/Donau

An allem hat sie nicht schuld

Na ja, ganz so streng würde ich nicht richten. Im heutigen Medienzeitalter wird jeder Film und manches Theaterevent maximal vermarktet. Ich habe schon einige Argumente in Merkels Buch für gut befunden, denn mehr als 700 Seiten können anstrengend sein. Zum Beispiel das Argument, dass die Gefahr bestand beim damaligen Aufnahme-Antrag der Ukraine in die Nato, dass Putin im Prüfungszeitraum von vier bis fünf Jahren zuschlägt vor Inkrafttreten des Beistandsartikels.

Oder ganz einfach, dass wir eben keine Diktatur haben, sondern Gewaltenteilung, und Merkel viele Dinge nur anstoßen konnte, aber nicht ausführen, so zum Beispiel den Ausbau der Stromtrassen oder den Aufbau von Windrädern. Das wurde ja massiv von der bayerischen Staatsregierung hintertrieben, aber auch Umweltverbände haben diese Projekte bekämpft. Die seinerzeitige Aussetzung der Wehrpflicht, das Hin und Her um den Atomausstieg oder auch die verschlafene Entwicklung von E-Autos/Batteriezellen muss man schon anderen Protagonisten mit anrechnen.

Aber ja, seinerzeit waren Kredite günstig, und man hätte schon noch mehr und vehementer anstoßen können. Immerhin ist Frau Merkel beweglich, und so plädierte sie für eine Reform der Schuldenbremse (die 2009 von ihr und SPD-Finanzminister Peer Steinbrück wegen der Banken-/Finanzkrise installiert wurde), im Gegensatz zum Starrsinn der jetzigen CDU/CSU, ganz zu schweigen von der FDP.

Dietmar A. Angerer, München

Medialer Selbstläufer

Es ist doch wieder einmal die übliche mediale self-fulfilling prophecy: Titelgeschichten, Gespräche und Interviews, Vorabdrucke, Berichte über die Gespräche und Interviews, Ankündigungen der Buchpräsentationen, alles opulent und schmeichelnd bebildert. Und anschließend das ungläubige Staunen über die Aufgeregtheit, die man selbst erzeugt und angeheizt hat. Mithilfe eines solchen medialen Trommelfeuers würden es auch die Memoiren der Amigos (Titelempfehlung: „Libertad!“) auf die Spiegel-Bestsellerliste und die Shortlist des deutschen Buchpreises schaffen. Dabei gerät völlig in Vergessenheit, dass der ursprüngliche Anlass – Memoiren einer Politikerin – wie üblich so gut wie nichts bietet, was diese Aufregung rechtfertigen würde: ein Wälzer von 736 Seiten für 42 Euro, der schon bald in viel zu vielen Regalen stehen und verstauben (oder per Ebay zum Ramschpreis entsorgt werden) wird. Aber Frau Merkel, Frau Baumann und ihr Verlag haben dank der kostenlosen PR-Kampagne dann längst ihre Schäfchen im Trockenen.

Prof. Dr. Wolf-Rüdiger Heilmann, Berlin

Verschätzt und verklärt

Selbstkritik war noch nie eine Stärke von Angela Merkel. Vielmehr ging und geht es ihr in erster Linie stets um sie selbst. Geblendet von ihrer Reputation in Europa und der Welt, hat sie im eigenen Land zahlreiche Versäumnisse mitzuverantworten und Russlands Verhalten komplett falsch eingeschätzt. Damit hat sie Deutschland, aber auch der CDU massiv geschadet. Auch ihr Verhalten gegenüber der CDU nach ihrem Abgang als Kanzlerin zeigt, dass die Partei für sie lediglich Mittel zum Zweck war. Wer behauptet, alles richtig gemacht zu haben, bis auf eine versäumte Stärkung der Bundeswehr, beweist, dass er den Bezug zur Realität verloren hat. So stürzt man sich selbst vom eigenen Sockel.

Manfred Peter, Hannover

Verschenkte Geschichte

Von Merkels Autobiografie bin ich enttäuscht. Im Jahre 2005 hatte die SPD-Führung auch deshalb Neuwahlen ausgerufen, damit Angela Merkel CDU-/CSU-Kandidatin wird und als schlechte Kandidatin ein enttäuschendes Ergebnis abliefern würde. Der Plan ging fast auf, doch die CDU war knapp vorne, aber weit hinter den eigenen Erwartungen zurückgeblieben. Da wurden in der CDU/CSU die Messer schon mal zurechtgelegt, um Frau Merkels Kanzlerschaft zu verhindern und sie durch einen anderen Kandidaten zu ersetzen.

Dies wollte die SPD aber nicht, hoffte sie doch mit einer schwachen Kanzlerin 2009 wieder vorn zu liegen. Um die CDU/CSU zu zwingen, an Merkel festzuhalten, aus reinem Kalkül folglich, legte Gerhard Schröder seinen Testosteron-Auftritt hin, gezielt, damit die CDUler sich hinter Merkel versammeln. Das „hinter ihr Versammeln“ danach deutet Merkel an. Damit hatte Schröder also Erfolg. Was lesen wir darüber in der Biografie: den Wortlaut der Fernsehdebatte, den sich jeder überall ansehen kann. Dass Frau Merkel vor diesem Hintergrund Schröder eigentlich dankbar sein müsste – kein Wort. Verschenkt.

Jens Richter, Duisburg

Merkels Alternativlosigkeiten

Merkel will sich keinerlei Alternativen zu ihren „Alternativlosigkeiten“ vorstellen. Was ihr einmal als plausibel vorkam, soll auch angesichts übelster Folgen nicht zu bereuen sein? Die Pfarrerstochter hat offenbar noch nie etwas vom Unterschied zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik gehört, die unabdingbar das Einstehen für negative Entscheidungsfolgen fordert. „Ich habe es immer nur gut gemeint und hafte daher für nichts“ ist eine unsägliche Politmoral, die man leider den führenden Politikern immer durchgehen lässt.

Guido Kohlbecher, Neustadt/Wied

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