Süddeutsche Zeitung

Leseleistungen:Bankrotterklärung in der Grundschule

Fast 20 Prozent der Viertklässler haben in Deutschland Probleme beim Lesen. SZ-Leserinnen und -Leser erklären diese negative Entwicklung nicht nur mit der Überforderung der Lehrer, sondern auch dem Desinteresse vieler Eltern.

Fast 20 Prozent der Viertklässler haben Probleme beim Lesen. Zu diesem Thema erschien eine Reihe Artikel: "Jeder fünfte kann nicht richtig lesen", "Die Kluft in den Klassen" und "Miserables Zeugnis" vom 6. Dezember. Hier einige Leserbriefe dazu:

Eltern müssen motivieren

Bei internationalen Schülervergleichen kommen bei aller Methodenkritik immer wieder unangenehme Tatsachen zutage, die wir hier in Deutschland so deutlich lieber nicht hören wollen. Stets gibt es dann heftige Kritik an der Schule, an den Lehrern, am Bildungssystem oder an der Bildungspolitik. Alles muss besser werden! Die Rückschlüsse aus der vorgestellten Studie allerdings muten an, als kämen die Forscher vom Mond. Die neue Erkenntnis: "Der Einfluss des Elternhauses wächst". Es muss ihnen bislang offenbar entgangen sein, dass der Einfluss der Eltern immer schon entscheidend dafür war, ob ein Kind in der Schule neugierig bleibt und überhaupt lernen will. Denn Kinder brauchen das Gefühl, dass die Eltern sich ehrlich für die Schule interessieren, sich wirklich über kleine Erfolge freuen, bei Misserfolgen Mut machen und Freude am Leben vermitteln. Kinder brauchen Anteilnahme und Anerkennung. Sonst wird die Schule unwichtig und zum Ärgernis.

In vielen Familien aber werden die kleinen Schulerlebnisse einfach übergangen, weil materielle Probleme, elterliche Eitelkeiten, Frust in der Arbeitswelt oder Konsumverhalten dominieren. Das ist keineswegs nur in sogenannten bildungsfernen Familien der Fall. Erfolgsverwöhnte Eltern mischen sich dann lieber in der Schule ein und wollen ihre Erwartungshaltung mit anderen Mitteln durchsetzen. Auf das Durchhaltevermögen in der Schule kommt es an, nicht auf das Ebnen eines hürdenfreien Weges. In unserer verwöhnten Gesellschaft müssen die Eltern wieder ihre motivierende Rolle begreifen und nicht immer nur die Schuld bei anderen suchen. Da ist es egal, wie viele Bücher zu Hause gezählt werden. Christine Schütt, Greifswald

Lehrer - auf sich gestellt

Wenn sich im Jahr 2016 die Leseleistung der Viertklässler nicht signifikant verbessert hat, dann ist allein das zumindest in NRW schon eine Leistung, die von den Grundschulen landesweit vollbracht wurde. Hier sitzen seit einiger Zeit Seiteneinsteiger mit einer Alphabetisierung in arabischen Schriftzeichen oder gar keiner Alphabetisierung und minimalen Sprachkenntnissen in Deutsch neben Förderschülern der unterschiedlichsten Couleur und der üblichen Menge von mehr oder weniger begabten, mehr oder weniger sozial oder sonst wie auffälligen Kindern. Klassenstärken von 25 Kindern oder mehr (!) sind keine Seltenheit, sondern eher die Norm. Die dringend notwendige Unterstützung seitens der Städte und Gemeinden sowie der Politik in Form von Förderlehrern und Integrationskräften in ausreichender Zahl fällt so gering aus, dass die einzelne Lehrkraft eben doch meist auf sich gestellt ist.

Dass unter solchen Bedingungen keine besseren Ergebnisse zu erwarten sind, versteht sich von selbst. Den Grundschulen kann man hier aber am wenigsten Vorwürfe machen. Sie stellen sich mit hohem Engagement der Aufgabe, alle irgendwie zu integrieren und unter einen Hut zu bringen. Das ist aber eigentlich die Verantwortung der gesamten Gesellschaft, die den Sündenbock zu gerne in der Schule sucht und findet. Eine Bankrotterklärung der Schule? Wohl eher eine Bankrotterklärung der Gesellschaft! Birgit Hoffmann, Wuppertal

Feuchte Hände sollten sie haben

Wie der Artikel "Miserables Zeugnis" von Paul Munzinger deutlich macht, fällt Deutschland mit seinen Grundschulen "leseschwach" weiter zurück. Das erweckt bei Eltern und Lehrern nicht nur berechtigte Besorgnisse und Zukunftsängste, sondern auch Wut. Zu Recht. Denn mitten im wirtschaftlichen Aufschwung, mit schwarzer Null, ist dieses reiche Einwanderungsland nicht in der Lage, eine effektive Schulpolitik zu betreiben. Es scheint, als bekämen unsere Politiker und Politikerinnen nur dann feuchte Hände, wenn sie unter den Druck von Wirtschaftsunternehmen geraten. Lehrer sind schließlich Beamte, dürfen nicht streiken und kosten nur Geld. Sie sollen sich einfach mehr den Leseschwachen zuwenden. Aber wie?

Gerade Grundschulen sind personell völlig überfordert: zu große Klassen, zu wenig Lehrer, zusätzlicher Migrationsunterricht, Inklusion von lernschwachen Kindern, oft ohne Sonderpädagogen, unmögliche Zusammenarbeit mit Eltern ohne Deutschkenntnisse. Hinzu kommt die hohe persönliche Verantwortung, die jede Grundschullehrerin und jeder ihrer Kollegen für diese jüngsten Schulkinder tragen. Und das alles zu einem Lohn der Stufe A 12.

Die Rektorinnen und Rektoren sollen unterrichten, organisieren, moderieren, konferieren und müssen dann noch das Kollegium für sogenannte Qualitätsanalysen mit zusätzlichen Fortbildungen und Vorgaben belasten. Dann nämlich steigen die Damen und Herren Inspektoren regelmäßig aus ihren Schulämtern hinab, um den Grundschulen mal gehörig Dampf zu machen. Man wird das Gefühl einfach nicht los, dass in den Kultusministerien, zwischen zwei Landtagswahlen die Grundschullehrer wie auf einem Brettspiel hin und her geschoben werden, und wer die meisten zusätzlichen Aufgaben zum selben Gehalt gelistet hat, hat gewonnen. So werden die dringend nötigen Voraussetzungen für gutes Lernen und das geforderte gute Lesen offensichtlich hinten angestellt. Denn für effektive Verbesserungen müsste man sich ja richtig ins Zeug legen und sich vielleicht sogar unbeliebt machen bei den Geldverteilern der Regierung.

Leider bleibt die Tatsache, dass es die Kinder sind, denen es durch dieses verkrustete, schulpolitische System am schlechtesten geht. Gregor Ortmeyer, Düsseldorf

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Quelle:
SZ vom 28.12.2017
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