Leitkultur:Deutschsein - ein leidiges Thema

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Was macht das Deutschsein eigentlich aus? Leserinnen und Leser streiten darüber, angeregt durch einen Kommentar zu Alexander Gaulands Satz, die Integrationsbeauftragte Aydan Özoguz solle man "in Anatolien entsorgen".

Was macht Deutschsein eigentlich aus? Goethe-und-Schiller-Denkmal in Weimar. (Foto: Michael Reichel/dpa)

"Die Identität des Entsorgers" vom 30. August:

Taugt nicht mal als Leitfaden

Kurt Kister hat recht, wenn er Aydan Özoğuzs Äußerung (politisch) unklug und (sachlich) falsch nennt. Er hat auch recht, wenn er den Begriff Leitkultur zumindest für diskutabel hält. Im Bewusstsein, dass sich solche Themen in einem Zeitungskommentar nicht erschöpfend behandeln lassen, seien folgende Ergänzungen erlaubt:

Begriffe gewinnen ihre Bedeutung nicht nur durch ihren gemeinten oder vermeintlichen Inhalt, sondern auch durch die Umstände ihrer Entstehung. Dazu gehören der Sprecher und die Sprechsituation. Es kommt darauf an, wer was in welchem Zusammenhang sagt. Denn Bedeutungen sind nicht festgelegt, sie gewinnen ihre Gestalt erst im Verstehen. Wenn Politiker wie CSU-Chef Horst Seehofer und Innenminister Thomas de Maizière von Leitkultur sprechen, verstehe ich (und ihre Wähler) das anders, als wenn man sie wohlmeinend als eine Art Leitfaden deutet. Das ist nicht Willkür, sondern ergibt sich aus politischen Haltungen, die bekannt sind. Das Problem dabei ist, dass sich politische Kampfbegriffe nicht so ohne Weiteres neu besetzen lassen. Man kann es zwar versuchen, aber um den Preis, missverstanden zu werden.

Özoğuz' Behauptung, es gäbe jenseits der Sprache keine deutsche Kultur, hält tatsächlich keiner politischen oder wissenschaftlichen Debatte stand. Als Gegenbeispiel lassen sich als Erstes die Schweizer anführen, die bei unterschiedlichen Sprachkulturen eine verbindende Politikkultur und Mentalität haben, die sich aus ihrer gemeinsamen Geschichte nährt. Ähnliches gilt für Schottland und Österreich. Überdies ist Kultur einer jener historischen und sozialen Begriffe, die nur phänomenologisch fassbar sind, mit schwimmenden Inhalten und Grenzen. Es lassen sich Bücher darüber schreiben, die morgen schon veraltet sind. Deshalb gelingt es den Leitkulturverfechtern auch nicht, ihr Projekt inhaltlich konsistent und unbestreitbar zu füllen. "Leitkultur" taugt nicht mal als Leitfaden.

Dr. Andreas Kalckhoff, Stuttgart

Hart erkämpfte Säkularität

Dem oben genannten Kommentar kann ich nur zustimmen. Besonders, dass er nicht nur die provokanten Äußerungen von Alexander Gauland kritisiert, sondern auch die Meinung von Aydan Özoğuz hinterfragt. Ja, uns Deutsche verbindet mehr als die Sprache! Zu den genannten Bereichen deutscher Kultur gehört auch, dass wir uns im 18., 19. und 20. Jahrhundert die Säkularität mühsam erkämpft haben. Wir müssen sie verteidigen und klare Grenzen setzen gegenüber einer Religion (Islam), der die Aufklärung größtenteils noch bevorsteht. Die weltoffenen Muslime verdienen dagegen unsere ganze Unterstützung. Über diese Fragen müsste es eine große öffentliche Debatte geben.

Dorothea Schmeißner-Lösch, Nürnberg

Vorschriften sind schlecht

Kurt Kister hat die menschenverachtende Aussage Alexander Gaulands richtig eingeordnet und er hat ebenso richtig festgestellt, dass es jenseits der Sprache eine spezifisch deutsche Kultur gibt - wenn sie auch nicht eindeutig zu bestimmen ist. Leider konnte ich für die Silbe "Leit-" in den meist polemisch geführten Diskussionen um die Leitkultur nie seine positive Definition "Du bist" und "Du könntest sein" identifizieren. Immer wird den zu uns kommenden Menschen vorgeschrieben, wie sie sich verhalten sollen. Unsere Kultur und unsere Sitten werden zum Maßstab gemacht, ganz so, als ob Migranten keine Kultur oder Werte hätten. So verstanden ist der Begriff Leitkultur untauglich für Integrationserfolge. Die Interpretation des Autors könnte daher ein Ansatz sein, die unsäglichen Leitkulturdebatten in eine andere, konstruktive Richtung zu lenken.

Dr. Anna Liebl, München

Durch Einwanderung bereichert

Der damalige Vorsitzende der CDU-Bundestagsfraktion, Friedrich Merz, holte den Begriff "Leitkultur" im Jahr 2000 in die politische Debatte und bezog ihn auf das "Deutsche". Sehr schnell wurde er als Gegenbegriff verwendet - meist gegen den "Multikulturalismus". Damit wurde der Begriff Teil der politischen Diskussion, der gesellschaftlichen Auseinandersetzung und der ideologischen Konfrontation und erscheint allein deshalb als völlig ungeeignet für sachliche Diskussionen um Werte oder Identitäten. Die Vorstellung, als sei das Präfix Leit- nicht als Rangordnung oder Bewertung zu verstehen, ist allein deshalb, aber auch schlicht aus semantischen Gründen abwegig. Außerdem haben alle Diskussionen der vergangenen Jahre gezeigt, wie der Begriff instrumentalisiert wird. Kurz: Wer sich beteiligen will an der Diskussion um kulturelle oder nationale Identitäten und deren Dynamik, tut gut daran, den Begriff der Leitkultur endgültig aufzugeben und das "Deutschsein" als immer neuen Prozess der Aushandlung zu verstehen, zu dem Sprache und Geschichte, Orte und Landschaften, Texte und Musik, Religionen und Philosophien, Essen und Trinken, Fußball und Kegeln etc. gehören und der durch Einwanderung nur bereichert werden kann.

Prof. Alexander Deeg, Leipzig

Sprüche aus den 50ern

Weimarer Klassik und Luther machen deutsche Leitkultur aus - wirklich? Nicht alle wissen, wo Weimar liegt, und die allerwenigsten kennen die Namen, geschweige denn die Werke der vier Klassiker. Luther? Jeder Professor der evangelischen Theologie weiß über ihn alles; aber die anderen? Deutschsein heißt, im Geiste Luthers und Goethes wirken! Solche Sprüche sind aus den Abiturfeiern der 50er-Jahre überliefert, weil sie alles mitbringen, was die Phrase braucht - Erhabenheit, Inhaltsleere, Folgenlosigkeit. Leitkultur: Leid' Kultur!"

Prof. Eberhard Eichenhofer, Berlin

© SZ vom 14.09.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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