Süddeutsche Zeitung

Lehrpläne in der Schule:Grundlegend reformieren - aber wie?

Lesezeit: 4 min

Der Ruf nach einer Entschlackung des Unterrichtsstoffes ist gerade wieder ziemlich laut. So einfach, wie's scheint, ist das aber gar nicht, warnen pädagogik-erfahrene SZ-Leserinnen und -Leser.

"Kann das weg?" vom 23. August:

Didaktischer Kompass

Die Überarbeitung der Lehrpläne könnte nicht so schwer fallen, wenn sich die Verantwortlichen an den verstorbenen Bildungsdidaktiker Klafki erinnern würden. Aus dem Himmel ruft er uns seine didaktischen Fragen zu: Um welche Lerngruppe geht es? Welche Gegenwartsbedeutung hat der Unterrichtsstoff für die Schüler? Welche Zukunftsbedeutung hat der Unterrichtsstoff? Wofür steht das Thema exemplarisch? Wenn die Verantwortlichen diese Fragen ehrlich beantworten, können sie verbrannte Hexen und expressionistische Lyrik in der Realschule mit gutem Gewissen aus dem Lehrplan streichen.

Ute Taube, Studienrätin i. R., Oberhaching

Aufgeblasene Ungetüme

Ohne Zweifel sind Lehrpläne notwendig, denn sie geben landesweit die einheitlichen Ziele vor, die in den einzelnen Fächern im Laufe der Schuljahre erreicht werden sollen. Wer aber die Lehrpläne von früher mit denen von heute vergleicht, stellt fest, dass sie zu riesigen Ungetümen aufgeblasen wurden, die den Lehrkräften (und Schülern) zunehmend weniger Freiheiten lassen. Ich will dies am Gymnasiallehrplan für Geografie aufzeigen: 1958 umfasste die "Bekanntmachung über Stoffpläne für Erdkunde an den Höheren Schulen" (für Erdkunde) eindreiviertel Seiten im Format A 5. 1965 benötigte die "Bekanntmachung über die Lehrpläne für Gymnasien in Bayern" für die Inhaltsangaben in den Jahrgangsstufen 5 bis 11 zweieinhalb Druckseiten im Format A 5. 1990 wurden die zu unterrichtenden Inhalte im Amtsblatt des Kultusministeriums für jede Jahrgangsstufe auf einer ganzen Seite im Format A 4 aufgelistet. 2015 braucht der "Lehrplan Plus" allein für den "Vorspann" vor der Aufzählung der zu erreichenden Kompetenzen im Fach Geografie über sechs eng bedruckte A 4-Seiten! Lehrkräfte sind auf ihrem Gebiet Fachleute. Dafür studieren sie nach dem Abitur ihre Fächer und besuchen Didaktikseminare; dafür machen sie zwei "Gesellenjahre" als Referendare mit; dafür legen sie zwei Staatsexamina ab. Und dann muss ihnen der Staat den Inhalt nahezu jeder Unterrichtsstunde vorschreiben? Konsequenz, zumindest fürs Fach Geografie: Streicht Lehrpläne auf ein absolut notwendiges Minimum zusammen: "Lehrplan minus". Gebt den verantwortungsbewussten Lehrkräften und Schülern Freiheit.

Dr. Ambros Brucker Oberstudiendirektor i. R., Gräfelfing

Förderung und Auslese

Die Kritik an Lehrplänen und ihren ständigen Überarbeitungen ist alt und unverändert problematisch. Irgendwie scheinen aber (fast) alle doch an ihnen festhalten zu wollen. Es wäre ja schön, wenn man alles, was man in der Schule und überhaupt im Leben lernen sollte und lernen kann, lebenslänglich behalten und bei vielen Gelegenheiten nutzen könnte. Aber wer kann das schon, und wer ist überhaupt dazu bereit?

Im Grunde signalisiert die Art, wie das Lernen in den Schulen organisiert ist, ja auch, dass man das "Durchgenommene" wieder vergessen darf, wenn man es in Prüfungen von sich gegeben hat. Dass die Lehrpläne als "Stoffpläne" so prall gefüllt sind, hat wohl auch damit zu tun, dass es eigentlich darum geht, die Lernfähigkeit und die Leistungsbereitschaft zu erproben und diese in Zertifikaten ("Noten") ausdrücken zu können. Deshalb muss immer wieder neuer Stoff bearbeitet werden, auch wenn ein Teil der Lernenden die entsprechenden Kenntnisse nur "ausreichend" oder gar "mangelhaft" erworben hat. Damit "gerecht" verglichen und bewertet werden kann, müssen alle an den gleichen Anforderungen gemessen werden. Das ist dann auch für die Lernenden eine Rückmeldung, an der sie die eigenen Fähigkeiten und ihren Stellenwert in der Gruppe beziehungsweise der Gesellschaft einschätzen können. Wer erfolgreich war, kann sich freuen und das als eigene Tüchtigkeit wertschätzen. Die anderen müssen akzeptieren, dass sie offensichtlich weniger "begabt" sind und im sozialen und beruflichen Wettbewerb weniger Chancen haben werden.

Die dabei sichtbar werdenden Unterschiede haben vielfältige Ursachen: dass die Lernfähigkeit eines Kindes auch genetisch bedingt ist, wird man prinzipiell akzeptieren müssen. Aber rechtfertigt das unterschiedliche Wertschätzungen? In den Familien werden Anlagen unterschiedlich herausgefordert, aber darf man das einfach hinnehmen? Die Schule soll unterschiedliche Voraussetzungen kompensieren. Auch deshalb sollen Lehrpläne für alle verbindlich sein. Aber am Ende sollen Fähigkeiten und Bereitschaften doch unterschiedlich erhalten bleiben und erkennbar werden. Diese Widersprüche lassen sich nicht einfach aufheben. In der Spannung zwischen Fördern und Auslesen wird das eine immer wieder gegen das andere eingefordert. Deshalb bleibt die Kritik an der überbordenden Stofffülle letztlich erfolglos. Sie ist "systemrelevant".

Eine Alternative wäre denkbar: Die für alle verbindlichen Vorgaben könnten ersetzt (oder zumindest ergänzt) werden durch eine konsequent individuelle Kompetenz-Entwicklung, die an den unterschiedlichen Voraussetzungen und Zielvorstellungen ansetzt und von einem Lernschritt zum nachfolgenden erst fortschreitet, wenn die dazu erforderlichen Fähigkeiten nachhaltig erworben wurden. Entsprechende Zertifikate würden dann nicht mehr pauschal vergleichende Aussagen (besser oder schwächer) treffen, sondern dokumentieren, was jemand inhaltlich wirklich kann. Darauf kann er/sie dann stolz sein und sich damit in die "allgemeine" Bildung und in kooperative Projekte einbringen.

Dr. Jörg Schlömerkemper Prof. i. R. für Schulpädagogik und Allgemeine Didaktik, Göttingen

Sackgassen-Debatte

Lehrplankritik ist ein Dauerbrenner in der deutschen Schulgeschichte. Bevor man aber über Einzelinhalte diskutiert, braucht es einen gesellschaftlichen Konsens, was Schulbildung im Kern ist und wie sie sich im begabungsgestützten Schulsystem ausdifferenziert. Bildung als wechselseitige Selbst- und Welterschließung im Sinne Humboldts zielt auf grundlegende bis vertiefte und umfassende Allgemeinbildung, die Kindern und Jugendlichen ermöglicht, Autonomie und Mündigkeit zu entwickeln. Es geht um Wahrnehmen und Verstehen, um Empathie, Kreativität und Selbständigkeit, um Kritikfähigkeit und ökologisch-soziale Verantwortung. Alle Inhalte und Kompetenzen müssen fächerverbindend und -übergreifend darauf hin geordnet sein und sollten exemplarisch-instrumentellen Charakter haben.

Vor einer erneuten Lehrplanreform - die jüngste in Bayern ist gerade sieben Jahre alt - braucht es einen inhaltlichen Diskurs über Bildung. Solange schulische Bildung persönlichen oder gesellschaftlichen Zwecken wie Zertifikatserwerb oder Abiturientenquoten untergeordnet wird, führen isolierte Lehrplandiskussionen in die Sackgasse.

Thomas Gottfried, Freising

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Quelle:
SZ vom 01.09.2021
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