Süddeutsche Zeitung

KZ-Prozesse:Vergangenheit nicht vergessen

Sollten greise Täter für Delikte während der NS-Zeit heute noch bestraft werden? Mehr Sorgen bereitet SZ-Lesern die aktuelle Geschichtsverklärung.

Zu "Sie waren Mörder" vom 17. November:

Geschichte lässt sich nachlesen

Ich gehöre noch einer Generation an, die zwar das Grauen nicht miterleben musste, habe aber als Jugendlicher die Auswirkungen der Adenauerschen Politik des "Schlussstrichs" deutlich mitbekommen. Deshalb kann ich mich auch noch sehr klar an "Diskussionen" erinnern, in denen die Wehrmacht als "ehrenhaft" und natürlich "unschuldig" bezeichnet wurde. Schuld seien nur die paar Nazis gewesen, und die seien ja alle tot. Außerdem sei es ja gar nicht so schlimm gewesen, und heutzutage bei dem Chaos wäre es schön, wenn mal wieder "ein kleiner Hitler" käme. Das ist schon lange her, aber immer noch sehe ich mich als Einzigen, der mit seinen 16 oder 17 Jahren dagegen argumentierte.

Herr Gauland (Jahrgang 1941) ist in den Jahren politisch sozialisiert worden, in denen das Vergessenmüssen oder Vergessenwollen gepredigt wurde. Das zu seiner Entlastung. Er hätte sich aber auch - wie ich später - das anlesen können, was er in der Schule von den Lehrern, die schon ein Jahrzehnt davor "volksdeutsch" erzogen haben, wohl nicht gelernt hat.

Zum Beispiel, dass es die deutsche Wehrmacht war, die der SS erst die Möglichkeit verschaffte, hinter der Front ihre abscheulichen Verbrechen zu verüben. Dass kein einziger Nazi-Richter vom Volksgerichtshof für seine Taten zur Verantwortung gezogen wurde. Er hätte auch darüber nachdenken können, wer wohl in den Behörden nach 1950 saß, nachdem die Alliierten keine Lust mehr auf Verbrecherjagd hatten und die Verurteilung der Täter denen überließ, die in den Behörden 1940 so effektiv gearbeitet haben, dass der Massenmord erst möglich gemacht wurde. Der Generalstaatsanwalt Bauer musste sich vor seinen eigenen Mitarbeitern fürchten, denen an der Diffamierung Bauers als "Jude" und "Homosexueller" mehr gelegen war, als die eigenen Kollegen als Mörder und Helfershelfer anzuklagen.

Damals hat Deutschland die Grundlagen für Leute wie Gauland und Höcke gelegt. Und weil das so gelaufen ist, darf sich Gauland hinstellen und diesen unsäglichen Vogelschiss-Vergleich bringen. Bis vor geraumer Zeit durfte auch Herr Höcke, Jahrgang 1972, als Lehrer den Schülern seine Version der deutschen Geschichte beibringen.

Dramatisch ist, dass solche Leute im Jahr 2021 eine große Anhängerschar haben. Die Prozesse gegen die greisen Täter werden keine Gerechtigkeit bringen. Opfer und Täter sind in den allermeisten Fällen tot. Es ist höchstens ein allerletzter Versuch der deutschen Justiz, ihr klägliches Versagen in den letzten Jahrzehnten zu kaschieren.

Thomas Spiewok, Hanau

Ewige Schuld

Die Schuldfrage wird ewig sein. Deutschland trägt eine moralische Schuld bis ans Ende der Zeit. "Entschuldigung für das Unentschuldbare", wie Steinmeier sagte. Alle Wehrmachtsmitglieder tragen Verantwortung, obgleich nicht juristisch schuldig befunden. Die Verantwortung impliziert moralische Schuld zusammen mit ganz Deutschland. Wichtig ist es, dass kein Land wie Deutschland so gründlich versucht hat, seine Vergangenheit aufzuarbeiten.

Lars Jönsson, Aachen

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SZ vom 01.12.2021
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