Kunst:Nadel, Faden und Felsen

!!! (c) Maria Lai/VG Bild-Kunst, Bonn 2021  !!!

Ein Fadenwerk auf Beton: die von Maria Lai 2004 gestaltete Mauer der Verstrickungen an der Straße zu den Höhlen von Su Marmuri.

(Foto: Maria Lai/VG Bild-Kunst, Bonn 2021/Mauritius; Universal Images Group North America LLC/DeAgostini/Alamy)

Maria Lai schaffte den Sprung von Sardinien in die internationale Kunstwelt. Inspiriert wurde sie von ihrer bäuerlichen Heimat

Von Helmut Luther

Maria Pisu sitzt auf der Terrasse ihres Landhauses in Cardedu, einem Dorf mit 2000 Einwohnern im Südosten der Insel. Schmetterlinge flattern um gelb blühenden wilden Fenchel. Hinter einem Waldstreifen zeichnen sich sichelförmige Buchten ab - mit weiten Sandstränden lockt Cardedu im Sommer viele Touristen an. Im Erdgeschoss des Hauses, wo früher selbst gekelterter Wein in Stahlfässern lagerte, hat Pisu einen hohen Saal in ein Privatmuseum mit Werken von Maria Lai umgewandelt. Die vor acht Jahren verstorbene Künstlerin war ihre Tante. Pisu ist Lais Universalerbin. Hier im Haus hat die kinderlose Lai mit Maria Pisus Familie gelebt. Sie habe sich um nichts außer ihre Kunst gekümmert, erzählt Pisu. "Wenn es hieß: ,Essen fertig!', antwortete sie: bin beschäftigt, ich komme später, dann vergaß sie das Essen einfach." Bei einem Rundgang zeigt Pisu das Atelier ihrer Tante, ein an das Hauptgebäude angebautes Häuschen mit hohen Fenstern. Dort hat man einen Felssporn im Blick, wo die steinernen Umrisse einer Nuraghe aus der Macchia ragen - so heißen die turmähnlichen Rundbauten der sardischen Urbevölkerung.

Maria Lais Repertoire reichte von Krippenfiguren über Fadenarbeiten zu Gemälden

Maria Lai war eine sehr vielseitige Künstlerin, ihre Werke wurden unter anderem auf der Biennale in Venedig ausgestellt. 2019, zu ihrem hundertsten Geburtstag, gab es im MAXXI in Rom eine große Retrospektive. Hier im Landhaus von Maria Pisu gibt es einen breiten Querschnitt: wandhohe Gemälde von Frauen mit Kopftüchern, die Mehl siebend im Kreis auf Schemeln hocken. Oder Krippenfiguren aus Ton, und immer wieder Holzrahmen sowie Webstühle mit herumhängenden Wollfäden. Auch wenn sie lange in Venedig und Rom gelebt habe, sei Lai der bäuerlichen Welt Sardiniens verbunden geblieben, sagt Pisu. "Zu den Webstühlen muss man sich Geschichten hinzu denken - abends, um das Feuer versammelt, wurde erzählt und gemeinsam gesungen."

Etwa 140 ihrer Werke hat Maria Lai der Stazione dell'arte geschenkt. Das 2006 eröffnete Museum befindet sich in Ulassai, eine halbe Autostunde landeinwärts von Cardedu. Die Häuser kleben hier wie Bienenwaben unter senkrechten Felswänden. Vor dem Dorfeingang wurden die Wartehallen einer aufgegebenen Bahnstation zum Museum umfunktioniert. Eine Tafel kennzeichnet die über das Gemeindegebiet verstreuten Plätze, wo Maria Lai Werke unter freiem Himmel schuf. Zu jedem einzelnen kann Pisu etwas erzählen - eine bessere Führerin als sie ist nicht vorstellbar. Da gibt es etwa das "Haus der Unruhe" aus dem Jahr 2005: ein mit Monstern bemaltes Restaurant in einer Haarnadelkurve unterhalb des Dorfeingangs. Einige Jahre zuvor hatte Lai nebenan einen steilen Hang, der als Müllkippe genutzt worden war, in ein "Aufstieg" betiteltes Werk verwandelt. Zu sehen sind am Fuß des Abhanges einige aufgetürmte Steine, darüber zwei mit den Spitzen aufeinander gestellte Betondreiecke, ganz oben eine Art Spiegel. Das Werk symbolisiere den Aufstieg der Menschheit von der Urgeschichte zum Radarzeitalter, erklärt eine Infotafel. Was dort nicht zu lesen ist, berichtet Maria Pisu: Maria Lai habe sich furchtbar über das erst später in der Kurve errichtete Gebäude geärgert. In den Augen der Künstlerin eine Verschandelung ihres Werkes. "Die Hexen und Drachen auf der Fassade sind Lais Rache. Unruhegeister, die die Planer nachts heimsuchen sollten - ist natürlich nicht wirklich böse gemeint."

An Betonmauern und Felsstürzen hat sich die Künstlerin verewigt

Gut ein Dutzend Open-air-Kunstwerke kann man rund um Ulassai entdecken. Ein schmales Teersträßchen schlängelt sich vom westlichen Dorfausgang zur Kirche der Heiligen Barbara. Am dritten Sonntag im Mai habe früher auf dem umliegenden Gelände ein großer Viehmarkt stattgefunden. "Ein mehrtägiges Fest für die Dorfbevölkerung, mit Prozession, Heiligenstatuen und Gottesdienst", erzählt Maria Pisu, während es an aufgelassenen Terrassenfeldern vorbei quer zum Hang Richtung Kirche geht. Am Straßenrand marschiert eine Familie in Wanderstiefeln, der Vater mit einem Fernglas um den Hals vorneweg, gefolgt im Gänsemarsch von der Mutter und zwei verschwitzten, mäßig motiviert wirkenden Halbwüchsigen. An der Bergseite graue Felswände, die die gespeicherte Sonnenwärme abstrahlen. Wie Silberfäden rinnen Wasserfälle über das Gestein. Die Gegend ist bei Kletterern beliebt - man hört sie in einer von Kaminen und Rissen zerfurchten Wand mit Karabinern klimpern. Unter Steineichen, die sich bis zur Straßenmitte vorwölben, ist der Rand mit Betonmauern abgesichert. Daran kleben ziegelförmige Klötze, ebenfalls aus Beton, dort hat die Künstlerin mit Formen Figuren, Brote und Fische, ausgestochen: eine Anspielung an das Wunder der Brotvermehrung. Jesus, berichten die Evangelien, habe mit nur fünf Broten sowie zwei Fischen eine riesige Menschenmenge gespeist. "Straße des Ritus" heiße dieses Werk, erklärt Pisu.

Ihre Tante Maria Lai wurde auf dem alten Dorffriedhof von Ulassai begraben. Unter zwei Felstürmen, die treffend "Schuhabsätze" genannt werden, bedeckt ein schlichter Marmorstein das Grab. Der Blick schweift hinunter in das grüne Tal des Rio Pardu, dahinter staffeln sich kahle Berge wie ein dunkles Meer im Aufruhr. Lange wird es nicht dauern, bis dieser Grabstein mit den Kunstwerken rundherum erneut zur Natur wird. Aus ihr schöpfte Maria Lai Inspiration, in ihr ist sie mit ihren Arbeiten wohl am besten aufgehoben.

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