Süddeutsche Zeitung

Kritik am Umgang mit dem Missbrauchsskandal:Die Kirche denkt mehr an sich als an die Opfer

Berichte werden nicht konsequent genug veröffentlicht, Täter nicht der Justiz gemeldet - und mitunter nicht einmal dem Vatikan.

Zum Buch Zwei "Hinter die Mauern" vom 30./31. Januar und zum Editorial "Es geht nicht nur um Woelki" vom 8. Februar:

Unkontrollierte Macht

Annette Zoch schreibt zutreffend: "Tatsächlich jedoch liegt der Fehler im System. Missbrauch und Vertuschung wurden und werden vor allem durch absolute und unkontrollierte Macht möglich." Verständlich wird dieser Satz allgemein aber erst, wenn man zugleich erklärt, dass Macht hier lediglich als Instrument zur Sicherung einer sehr klaren, unverzichtbaren und für den Klerus eigentlich selbstverständlichen Vorstellung dient: dem Anspruch nämlich der Nicht-Hinterfragbarkeit seines kirchlichen, aber auch seines menschlichen und persönlichen Denkens und Handelns.

Dr. Heribert Lange, Lingen

Beichtversagen

Zählt man einmal, nur kursorisch, all die geistlichen Personen zusammen, die Missbrauch verübten - und den oft, weil gewohnheitsmäßig -, dann summiert sich das auf Millionen von einzelnen Delikten: von schweren Sünden. Diese aber müssten, zumindest im katholischen System, gebeichtet werden. Wenn sie gebeichtet wurden, müsste diesem System irgendwann ein systemisches Kinderschändungs-Problem bewusst geworden sein: Wurde das negiert oder verdrängt? Hat auch das niemand in der ganzen Kirche bemerkt?

Weiter gefragt: Absolvierten die Beichtväter auch angesichts solch schwerer Sünden ihre Amtsbrüder? Sie hätten die "Freisprechung" doch mit (Therapie?-)Auflagen aufschieben können? Scheint nicht geschehen zu sein? Man dachte, nur in antiklerikalen Romanen absolvieren sich die Päderasten/Sadisten et cetera gegenseitig? Oder wurden derlei Dinge gar nicht gebeichtet? Konnten dann sakramentale Handlungen gültig sein? Teilten solche Täter umstandslos die Kommunion aus? Damit stehen nun doch auch all diese Beichtväter mit im ausufernden, übel riechenden Sumpf? Voltaire wäre verblüfft, wie die Kirche seiner Forderung nach Zerstörung selbst nachkommt.

Dr. Lothar Kolmer, Bayerisch Gmain

Juristisches Versäumnis

Im Deutschen Historischen Museum Berlin hängen Luthers 95 Thesen zum Ablass-Handel - eine vergleichsweise harmlose Petitesse, wenn man das Unvorstellbare erfährt, was heutzutage sub umbra ecclesiae (,im Schatten der Kirche'; d. Red.) in der Kirche mit Kindern geschah. Am 31. Oktober 1517 ging es Luther vergleichsweise um eine Petitesse, die Loslösung der "Protestanten" von Rom war deren Folge. Aktuell geht es um unglaubliche Verbrechen an unschuldigen Kindern und unmündig gehaltenen Erwachsenen und um eine angemaßte Rechtshoheit der (katholischen) Kirche. Es ergibt sich die Frage: Kann man das Heil seiner Kinder einer Institution anvertrauen, die solchen Missbrauch ermöglicht? Die eine quälend lange Zeit braucht, klare Konsequenzen zu ziehen?

Dass diese Verbrechen heute sub umbra dei (,im Schatten Gottes'; d. Red.) stattfinden konnten und die katholische Kirche noch immer in einem eigenen Rechtsraum agitiert, ist eine Altlast, die mit dem Beginn des NS-Staates eng zusammenhängt; Hitler billigte das noch heute gültige Konkordat. Dies war (am Beginn der "Bewegung") ein äußerst geschickter Schachzug - er brauchte die fromme Wählerschaft. Es wird höchste Zeit, den Vatikan kritisch zu betrachten und das proto-nazistische Konkordat jetzt neu zu verhandeln. Und die Schuldigen nach den Gesetzen des Staates zu verurteilen, auf dessen Boden die kriminellen Handlungen stattfanden.

Dr. Hans-Georg Fritz, Berlin

Reformhürden

Anstoß des Synodalen Wegs sei die MHG-Studie von 2013 gewesen (benannt nach den drei Standorten beteiligter Forschungsinstitute: Mannheim, Heidelberg, Gießen; d. Red.), die erstmals die systematischen Ursachen des Missbrauchsskandals offengelegt habe. Doch die Debatten um Frauen, Sexualmoral, Zölibat und klerikale Macht gab es schon in den 1960-er Jahren. Die Würzburger Synode fand 1975 statt. Rom hat bis heute darauf nicht geantwortet. Im Gegenteil. Prof. Hans Küng wurde 1979 wegen seiner Ansichten zur Jungfrauengeburt, Gottessohnschaft und Unfehlbarkeit die kirchliche Lehrerlaubnis entzogen. Sex vor der Ehe, Homosexualität, Selbstbefriedigung sind nach offizieller katholischer Lehrmeinung - siehe "Katechismus der katholischen Kirche" - auch heute noch schwere sittliche Verfehlungen. Und das Dogma der Unfehlbarkeit mit seiner unheilvollen Wirkungsgeschichte gilt immer noch. Auch der Synodale Weg wird sich daran die Zähne ausbeißen.

Artur Borst, Tübingen

Fatale Missverständnisse

Kindesmissbrauch gehört wie alle schweren Verbrechen den Gerichten angezeigt. Doch stattdessen praktiziert die katholische Amtskirche immer noch die voraufklärerische Tradition einer Anzeige im Vatikan. Diesem Missverständnis hat Kardinal Woelki noch ein zweites hinzugefügt, indem er einen mutmaßlichen geistlichen Missbrauchstäter nicht einmal nach Rom gemeldet, sondern entschieden hat, den Fall wegen des fortgeschrittenen Alters des Betroffenen nicht weiter zu verfolgen. Der Schaden für das Ansehen der Kirche ist immens, setzt sie sich doch dem Verdacht aus, statt Opferschutz Täterschutz zu praktizieren. Wenn Kardinal Woelki nicht die nötigen Konsequenzen aus seinem Fehlverhalten zieht, muss es der Vatikan tun.

Jan P. Beckmann, Hagen

Woelki und Marx

Was unterscheidet Kardinal Woelki von Kardinal Marx? Beide haben ein Gutachten in Auftrag gegeben zur Aufklärung von Missbrauchsfällen in ihren Bistümern. Kardinal Woelki hat sein erstes Gutachten wegen angeblicher rechtlicher Mängel einkassiert und es somit der Öffentlichkeit entzogen. Anschließend beauftragt er eine andere Kanzlei für ein nochmaliges Gutachten. Er muss dafür, und auch wegen ungeschickter Begründungen, sehr viel Kritik einstecken. Ein Rücktritt wird nicht mehr ausgeschlossen. Sogar Kardinal Reinhard Marx hat ihn indirekt dazu aufgefordert, das erste Gutachten zu veröffentlichen, um weiteren Schaden von der Kirche abzuwenden.

Da reibt sich aber der geneigte Leser ausgiebig die Augen und liest gleich nochmal.

Ausgerechnet Marx, der 2010 auch ein Gutachten zum gleichen Thema bei der Münchner Kanzlei Westphal, Spilker, Wastl in Auftrag gegeben hat. Dieses wurde in einer eigenen Pressekonferenz zwar vorgestellt, aber nur die Zusammenfassung. Das eigentliche Gutachten im Wortlaut verschwand, genauso wie bei Woelki, im Tresor von Kardinal Marx. Der sogenannte Westphalbericht gilt seitdem als Mysterium. Die selbe Kanzlei erstellt zur Zeit (nach zehn Jahren!) ein neues Gutachten, wieder für das Bistum München-Freising. Fertig soll es noch heuer werden. Anscheinend enthielt das Gutachten von 2010 zu viele Details, die zumindest in der damaligen Zeit manch kirchlichem Würdenträger nicht passten. Ein Satz aus der Zusammenfassung sagt eigentlich schon sehr viel darüber aus: "(...) Dies gilt umso mehr deshalb, da nach den Gutachtern vermittelten Erkenntnissen Aktenvernichtung in erheblichen Umfang stattgefunden haben und weitreichende Aktenbestände außerhalb des Ordinariats in Privatwohnungen (!) eingelagert wurden und damit manipulativem Zugriff ausgeliefert waren" (Quelle: "Kernaussagen des Gutachtens" von Kanzlei Westphal, Spilker, Wastl vom 2. Dezember 2010, Informationen zur Pressekonferenz vom 3. Dezember 2010, Seite 3). Im Gegensatz zu Woelki hat Marx es jedoch verstanden, seinen Vertuschungsakt geschickt aus der Öffentlichkeit heraus zu halten. Wo ist also der Unterschied zwischen Woelki und Marx? - Ich bin gespannt, ob die neuen Gutachten die beiden Kardinäle jetzt "zufriedenstellen".

Georg Langschartner, Garching/Alz

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Quelle:
SZ vom 17.02.2021
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