Interview „Machen die Deutschen gerne blau?“ vom 10. Januar, Pro „Wer krank ist, soll zahlen“ und Contra „Wer krank ist, ist krank“ und „Das Kreuz mit den Kranken“ alle vom 8. Januar, „Der Mercedes-Chef liegt falsch“ vom 16./17. Dezember:
Vertraglich regeln
Den Vorschlag von Allianz-Chef Oliver Bäte, dass die Lohnfortzahlung erst am zweiten Krankheitstag geleistet werden soll, halte ich für falsch. Aus Vereinfachungsgründen hat man ja im Arbeitsvertrag drinstehen, dass man nicht extra zum Arzt muss, wenn man nur einen Tag krank ist. Das finde ich auch nach wie vor richtig, weil man sonst zum Arzt gehen muss, und dieser fängt mit einem Tag Krankschreibung gar nicht erst an, sondern mit drei Arbeitstagen – und genau dazu wird dieser Vorschlag von Herrn Bäte auch führen. Die Arbeitnehmer werden dadurch nur länger krank, weil sie gleich zum Arzt gehen.
Was kann man dagegen tun? Arbeitnehmer sollten aufgeklärt werden, dass sie, wenn sie einen Tag nicht arbeiten können, auch einen Gleittag spontan (ohne Konsequenzen) nehmen können, sofern doch kein „gesundheitlicher“ Grund dahintersteckt. Könnte ja sein, dass man am Vortag auf einer großen Party war und man hat zum Beispiel noch „Restalkohol“. Man sollte Arbeitsverträge so gestalten, dass die „großzügige“ Regelung mit „einen Tag krank sein“ nur maximal achtmal im Jahr geschehen darf, ansonsten ist eine Krankmeldung vom Arzt erforderlich. Bei Mitarbeitern, die auffällig oft krank sind, sollte man das Gespräch suchen.
Ruben Brown, Holzkirchen
Pro und Contra
Es wird mal wieder über die Frage gestritten, ob ein Karenztag im Krankheitsfalle zumutbar ist. Es spricht für Ihre Zeitung, dass beide Meinungsartikel überzeugend begründet sind und man beiden eigentlich nur zustimmen kann, obwohl sie diametral gegensätzliche Positionen vertreten. Geht das? Ja, das geht, denn die angeführten Argumente sind für sich genommen nachvollziehbar und haben ihre Berechtigung. Allerdings könnten die Blickwinkel der beiden Kommentatorinnen auf das Problem nicht unterschiedlicher sein. Während Frau Kunkel die Frage unter dem Aspekt der Einzelfallgerechtigkeit betrachtet, betont Frau Bund die (unerwünschten) gesamtgesellschaftlichen Wirkungen der heutigen Praxis.
Ja, es erscheint nicht gerecht, wenn ein Kranker auf etwas Gehalt verzichten soll, aber es ist ebenso ungerecht, wenn ein System, das wesentlich auf Vertrauen beruht, zunehmend ausgenutzt und damit allen Versicherten und der Gesellschaft insgesamt geschadet wird.
Insofern steht das Thema beispielhaft für ein grundsätzliches Dilemma unserer heutigen gesellschaftlichen Strukturen. Die von uns allen ständig beklagte Überregulierung sämtlicher Lebensbereiche beruht nämlich ganz maßgeblich auf dem Bestreben, Einzelfallgerechtigkeit um jeden Preis und bis ins letzte Detail herzustellen. Das führt zu immer weiter ausufernden Regelungen in allen Bereichen des Lebens und damit zu immer mehr (notwendiger) Bürokratie, um die Gesetze auszuführen. Wir haben es leider verlernt, mit kleinen „Ungerechtigkeiten“ im Einzelfall zu leben, die sich im Übrigen genauso zum Vorteil des Einzelnen auswirken können. Insofern kann ich der Forderung von Frau Bund an die Politik, mehr Mut zu zeigen, nur uneingeschränkt zustimmen.
Claus Rüter, Reinbek
So sicher nicht
Höchstbezahlte Manager und Konzernführer sollen sich um eine positive Entwicklung der Unternehmen kümmern. Gute Vorschläge zu Produkten und Dienstleistungen wären die allererste Aufgabe. Aber was passiert zum Jahresauftakt 2025? Das Gejammer der Manager und Familienunternehmer geht weiter. Die alten Platten von Karenztagen bei Krankheit, Arbeitszeitverlängerung und Sozialabbau werden aus dem staubigen Keller geholt.
Die Schlussfolgerung von Frau Bund, dass zu viele Kranke und zu geringe Arbeitszeiten für eine gesunkene Produktivität verantwortlich wären, ist sehr unterkomplex analysiert. 45 Wochenstunden Arbeit und die Abschaffung der Lohnfortzahlung müssten ja dann das Wachstumsparadies eröffnen. Das glaubt doch kein Mensch. Wer meint, dass die Produktivität mit der Knute geringerer Sozialleistungen zu steigern wäre, ist auf dem Holzweg. Gesundheitsförderung im Betrieb, wertschätzendes Betriebsklima und eine Vertrauens- statt Misstrauenskultur sind angesagt. Mit uralten Rezepten aus der neoliberalen Mottenkiste bekommen wir die Wirtschaft nicht auf Kurs.
Claus-Harald Güster, Wedel
Symptomatisch
Laut der Arbeitsunfähigkeitsstatistik der gesetzlichen Krankenversicherung sind die Arbeitsunfähigkeitstage im zurückliegenden Jahrzehnt angestiegen. Besonders auffällig dabei ist die starke Zunahme der Krankmeldungen wegen Depressionen, Burn-out und Angststörungen. Auch wenn diese Daten nicht gleichzusetzen sind mit dem Gewicht epidemiologischer Befunde, belegen sie eine steigende Kostenlast für die betroffenen Unternehmen und können durchaus mitverantwortlich sein für den zunehmenden Fachkräftemangel und das ausbleibende Wachstum unserer Wirtschaft.
Warum, so darf gefragt werden, findet diese sowohl gesundheitspolitisch als auch wirtschaftspolitisch bedenkenswerte Entwicklung der AU-Zahlen so wenig Beachtung bei den Entscheidern oder wird abgetan als Problem nur der Erwerbstätigen? Die Arbeitsmoral der deutschen Arbeitnehmer scheint immer mal wieder gut für wenig datengestützte und stark generalisierende Diskussionen. Hier schlägt bloße Polemik solide Analytik. Nicht jeder Abwesende ist krank. Aber auch nicht jeder Anwesende ist gesund! Die in der Debatte um die Fehlzeiten oft mitschwingende Unterstellung, Arbeitnehmer seien grundsätzlich arbeitsunwillig (vulgo: „faul“) und ergriffen gerne jede Gelegenheit zum „Blaumachen“, entbehrt jeder Evidenz.
Die wenigen wissenschaftlichen Studien dazu legen vielmehr nahe, sich stärker mit dem sozialen Kontext der Beschäftigten in den Betrieben auseinanderzusetzen. Auch die in der Diskussion ebenfalls immer mitschwingende Unterstellung, Arbeit mache krank, verdient eine gründliche Revision. Wissenschaftliche Studien belegen, dass insbesondere die mentale Gesundheit von vertrauensvoller Zusammenarbeit und sinnstiftenden Aufgaben und Zielen profitiert. Die Verbundenheit mit Zielen und Aufgaben, aber auch mit Kolleginnen und Kollegen und den Führungskräften beeinflusst die „Bettkantenentscheidung“, zu gehen oder zu bleiben. Wie die Forschung belegt, sind Beschäftigte zudem bereit, trotz Krankheit und auch gegen den ärztlichen Rat ihrer Arbeit nachzugehen, „präsent“ zu sein – vielleicht, weil Termine drängen, Wichtiges zu erledigen ist oder Kolleginnen nicht im Stich gelassen werden dürfen.
Gerade bei psychischen Beeinträchtigungen kann nicht ausgeschlossen werden, dass Betroffene gar keinen Arzt aufsuchen und damit auch in der Arbeitsunfähigkeitsstatik nicht auftauchen. Dass sich ein Unternehmer Sorgen um die Wettbewerbsfähigkeit seiner Betriebe macht, ist verständlich. Aber was genau bedeuten hohe Fehlzeiten, und welche Schlüsse sollte das Management daraus ziehen? Fehlzeiten können ihre Ursachen im ungesunden Verhalten der Beschäftigten haben, aber auch mit Problemen in der Organisation zusammenhängen und mit konjunkturellen oder jahreszeitlichen Einflüssen.
Die vertiefte Beschäftigung mit den Ursachen der Fehlzeitenentwicklung sollte Anlass sein, den Blick auf die Qualität der tagtäglichen Zusammenarbeit, auf die Führungskultur und den Stand des betrieblichen Gesundheitsmanagements zu richten. Je geringer das Misstrauen zwischen Führung und Mitarbeitenden, umso größer die Wahrscheinlichkeit für einen konstruktiven Umgang mit der Kennzahl Fehlzeiten, zum Beispiel in Form von Qualifizierungsangeboten oder Kulturworkshops.
Prof. Dr. Bernhard Badura, Fakultät für Gesundheitswissenschaften, Universität Bielefeld
Drohende Minustage
Wie Professor Hagemann, der ja etwas von der Materie versteht, richtig erkannt hat, gehen die beiden ersten, journalistisch-überspitzten Ansätze fehl: Weder ist es probat, jeder/m Erkrankten gleich mal den Lohn zu streichen, und sei es nur für einen Tag oder um 20 Prozent; noch trifft es zu, dass jede/r, der krank zu sein behauptet, dies auch wirklich ist. Da es aber letztlich auf die Mehrbelastung der jeweiligen Kollegen ankommt und nicht auf die Staatsfinanzen, schlage ich vor, pro zehn Fehltagen einen Urlaubstag zu streichen; für Fehltage im letzten Quartal oder im Dezember meinethalben im Folgejahr: Wer bettlägerig ist, braucht keine zusätzliche Urlaubsentspannung; ein drohender Minustag mag aber ein ausreichender und aushaltbarer Anreiz sein, so bald als gesundheitlich möglich wieder an den angestammten Arbeitsplatz zurückzukehren. Und die Kolleginnen und Kollegen müssten nicht über Gebühr für die – warum auch immer – Abwesenden mitarbeiten.
Dr. Nils Heineking, Mering
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