Gastronomie:Die Vorkoster

Gastronomie: Mit Tamtam und Tamarinde: Auch das Restaurant Aimy in der Münchener Innenstadt hat ein SZ-Redakteur für die Kostprobe getestet.

Mit Tamtam und Tamarinde: Auch das Restaurant Aimy in der Münchener Innenstadt hat ein SZ-Redakteur für die Kostprobe getestet.

(Foto: Friedrich Bungert)

Italienisch, bayerisch oder äthiopisch: Mehrere SZ-Redakteure gehen regelmäßig für die Restaurantkritik "Kostprobe" essen. Warum das nicht immer vergnüglich ist.

Von Johanna N. Hummel

Wer an die Geschichte der Vorkoster denkt, hat vermutlich den Praegustator im Sinn, einen Menschen, den man sich rundlich vorstellt, weil es seine Lebensaufgabe war, Proben vom Tisch des Herrn zu essen, bis dass der Gifttod ihn ereilte. Seit Tausenden Jahren leisten sich Herrscher Vorkoster, bei Putin soll es sich um ein ganzes Team handeln. Nun gibt es nicht nur armselige, sondern auch glückliche Vorkoster, hierzulande stehen sie im erfreulichen Dienst der Esskultur. Sie heißen auch Kritiker und verstehen sich nicht "als unfehlbare Schlemmerpäpste der Haute Cuisine", sondern als "Vorkoster" für interessierte Leser. Das stand am 11. Oktober 1975 in der Süddeutschen Zeitung, die Redaktion kündigte an, künftig jede Woche eine Restaurantkritik zu veröffentlichen, einen Service, den es bisher in der Presse nicht gab. Zwei Tage später erschien die erste SZ-Kostprobe.

Schuld am Projekt Kostprobe war der damalige Bundespräsident Walter Scheel, den Reporter entdeckten, als er in einem feinen Münchner Restaurant ein saures Lüngerl löffelte. Ein saures Lüngerl als gehobene Speise? Auf der Seite Drei der SZ erschien daraufhin eine Reportage von Hannes Burger zu dem Thema "Wie das Lüngerl in feine Kreise kam". Sie brachte die betrübliche Erkenntnis, dass Essen nur selten eine kulturelle Veranstaltung sei, was die Redaktion nachdenklich machte.

Das Brainstorming - auf Deutsch Kopfsalat - führte zu einer Erfolgsstory sondergleichen: Seit 47 Jahren erscheint die Kostprobe jede Woche im Lokalteil, von der bleiernen Corona-Zeit abgesehen. Seit 47 Jahren verfahren die Kritiker, "die Damen und Herren", wie es 1975 gendermäßig korrekt hieß, nach demselben Muster: Sie gehen unerkannt in kleiner Runde in ein Restaurant in und um München, sie bleiben anonym, essen und zahlen wie jeder Gast, und sie schreiben unter einem Pseudonym.

Jedes Restaurant wird mehrfach besucht - um alle Höhen, Tiefen und Untiefen herauszufinden

Jedes Lokal wird zwei- oder dreimal besucht, was angenehm klingt, aber nur in guten Restaurants vergnüglich ist. Doch wer sich dreimal durch die Speisekarte mit ihren Höhen, Tiefen und Untiefen gearbeitet hat, kann ganz gut erkennen, wie die Küchencrew tickt. Keine Kostprobe ist reine Serviceleistung, Journalisten erzählen vielmehr, was man so alles erleben kann, wenn man zum Essen geht, ob ins Sternerestaurant, ins Wirtshaus oder ins vegetarische Lokal. Mangel an Stoff herrscht nicht.

Nun tat sich bereits mit den 1970er-Jahren einiges in der Münchner Restaurantlandschaft, 1974 hatte Eckart Witzigmann seinen zweiten Stern für das Tantris erkocht, Heinz Winkler und später Hans Haas folgten. Doch Esskultur blieb die Ausnahme, was schon in der ersten Kostprobe stand. Sie beschrieb das Spatenhaus an der Oper, und sie erzählte viel von seinem damals desolaten Zustand. Der Adressenhinweis dazu würde der SZ heute einen Shitstorm bescheren, das Restaurant, so hieß es, befände sich "gegenüber der Operntiefgarage". Illustriert wurde die Kostprobe von da an mit einer Karikatur von Luis Murschetz, auf der ein ältlicher Mann aus seiner Schreibmaschine Spaghetti fischte. Die Karikatur hielt sich länger in der Zeitung als die Schreibmaschinen in der Redaktion. Mittlerweile erscheint die Kostprobe donnerstags, und sie ist mit Fotos üppig garniert, eine Punktewertung zeigt, was von den Räumen, der Küche, dem Service und der Preisgestaltung zu halten ist.

Gastronomie: Illustriert wurde die Kostprobe früher mit einer Karikatur von Luis Murschetz.

Illustriert wurde die Kostprobe früher mit einer Karikatur von Luis Murschetz.

(Foto: SZ-Archiv)

Die Kostpröbler, es sind derzeit etwa ein Dutzend aus den verschiedensten Ressorts, eint eine Eigenschaft: Sie müssen nicht nur etwas vom guten Essen verstehen, sondern auch vom feinen Kochen. Und einige könnten in Weinfragen fast als Sommelier auftreten. Es gab Zeiten, da hat sich das Team zusammengetan, einen heimischen Herd angeworfen und mit Verve Rezepte nachgekocht, Wolfram Siebecks Weihnachtsmenü zum Beispiel. Den Lesern wurde das Ganze dann in schriftlicher Form serviert.

Ziemlich schnell begannen nach 1975 auch andere Medien Restaurants zu testen. Doch noch war die Gastronomie eher ein Nischenthema und manche Wirtschaft starkes Entwicklungsgebiet. Ein Huhn, wie es Redakteur Carolus Hecht damals auf dem Teller hatte - er nannte es Graustinkstoff -, würde heute keine Küche mehr verlassen, und es kostete den Wirt die Pacht. Der Koch schaute kurz drauf und sagte: "I tat's a net essen."

Was die Kostprobe von vielen anderen Kritiken unterscheidet: die Anonymität der Tester

Das ist lange her. Die Gastroszene ist in den vergangenen zwanzig Jahren explodiert, und mit ihr die Qualität der Lokale. Edle Restaurants in München können sich derzeit mit 21 Sternen schmücken, aber auch ohne dergleichen Orden sind immer mehr Lokale immer schicker geworden, ihre Speisen immer differenzierter, innovativer. Restaurantkritiken zum Mega-Thema Essen erscheinen überall, ob gedruckt oder im Internet. Auch die SZ-Kostproben findet man online, die Jahresbändchen braucht es nicht mehr. Doch was die Kostprobe noch immer von vielen anderen Kritiken unterscheidet, ist vor allem eines: die Anonymität der Tester. Keine Kostprobe kann gelingen, wenn Wirt, Köche und Bedienungen in einen Probenstress verfallen und noch dazu jede Reaktion der Esser beäugen.

1975 hatte der Syndikus des Verlags vermutlich schlaflose Nächte, weil das Projekt Kostprobe auf rechtlich reichlich unsicherem Terrain installiert wurde. In der SZ klang das folgendermaßen: Jede Kostprobe bleibe eine subjektive Geschmackssache, "eine Moment-Aufnahme mit dem Risiko von Zufällen". Überflüssige Sorgen. Selbst Gegendarstellungen gab es in den bald fünf Jahrzehnten vielleicht eine Handvoll, alle anderen hatten keine Berechtigung, auch nicht die eines Wirts, der gekränkt war, weil in der Kostprobe stand, seine Gemüse seien geschmacksfrei. "Wir führen keine geschmacksfreien Gemüse", protestierte er fast anrührend.

Ein Wirt eines sehr elitären und sehr schlechten Landgasthofs verfolgte die Chefredaktion mit Klagedrohungen, er sei ruiniert, kein Gast komme mehr. Irgendwann wurde es dem Chefredakteur zu viel, er fuhr zu dem Restaurant und fand keinen Platz, jeder Tisch war besetzt. Er stellte sich dem Wirt vor, was genügte. Der Wirt eines anderen Ausflugsgasthofs dagegen ließ nach einer Kostprobe große Plakate drucken und tapezierte damit in München die Litfaßsäulen. Er sei in der SZ kritisiert worden, stand darauf, und das zu Recht, er gelobe Besserung. Er hielt Wort.

In einem Lokal stand der Küchenchef in der Gaststube und rief: "Ich kann nicht mehr"

Nun gab es in der Frühzeit der Kostprobe auch gute Kritiken, die manche Wirte nicht so richtig erheitern konnten. Die Leser stürmten die Wirtschaften. In einem Lokal stand der Küchenchef händeringend in der überfüllten Gaststube und rief: "Ich kann nicht mehr." Und ein Wirt ließ nur noch die Stammkunden ins Haus, die neuen Gäste schickte er mit den Worten weg: "Seids zerscht net kemma, na brauch i eich jetz aa net." Die Kostpröbler dachten fürsorglich darüber nach, ob man winzige Restaurants nicht mit einer guten Kritik ruiniere.

Nun ist Fürsorge wahrscheinlich das Letzte, das sich Wirte und Journalisten wünschen. Sicher, allein Corona hat die Szene reichlich durcheinandergewirbelt, Inflation und Energiekrise noch nicht eingerechnet. So manches Lokal gab mit den Lockdowns auf, Bedienungen und Köche sattelten um und fehlen jetzt, Wirte reduzieren deshalb Öffnungszeiten, kürzen Speisekarten, kochen selbst.

Gleichzeitig aber drängen die Gäste in die Restaurants, die Corona-Zeiten haben sie offensichtlich völlig ausgehungert. In der Spitzengastronomie schließlich scheinen die erzwungenen Corona-Pausen starke Veränderungswünsche ausgelöst zu haben, es herrscht eine Art Gründerzeit. Eines der ersten Corona-Opfer war der Werneckhof, er machte zu, Sternekoch Tohru Nakamura ging auf eine Art Gastro-Wanderschaft, bis er in der Schreiberei eine eigene Bleibe fand. Sein Restaurantleiter und sein Sommelier machen sich selbständig, Jan Hartwig ließ seine drei Sterne im Atelier liegen und gründet ein Lokal, das mit Sternen dekorierte Dallmayr-Restaurant hat einen neuen Chefkoch. Alles fließt, das soll bereits Heraklit gesagt haben, der vielleicht auch einen Vorkoster hatte. Auf die Kostprobe kommt einige Arbeit zu. Aber mit 47 Jahren ist sie ja im besten Alter.

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