Klarnamenpflicht:Gefährdet Anonymität die Diskussionskultur?

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Die meisten Leserbriefschreiber votieren dafür, auch im Netz Ross und Reiter zu nennen. Manche warnen vor einer Verrohung der Sitten durch anonyme Internetforen.

Zu " Anonymität ist Normalität", 12. Juni, und " Weder sozial noch Medien", 8. Juni:

Albträume aus dem Netz

Nein, man trägt auf der Straße und der Demo kein Namensschild, auch nicht am Auto. Letzteres hat aber ein Nummernschild, und die Identität desjenigen, der auf der Straße oder der Demo beleidigt, bedroht oder andere Straftaten begeht, kann festgestellt werden, zur Not mit Hilfe von Passanten, die einen Verdächtigen bis zum Eintreffen der Polizei festhalten.

Anonym eine Wohnung mieten, arbeiten oder ein Bankkonto führen - zum Glück auch eher schwierig, kein Verstoß gegen Grundrechte - und auch kein gläserner Albtraum. Natürlich sollte man weiter als FrankTheTank auf Spon Kommentare schreiben können - aber natürlich sollten Spon und andere Anbieter wissen, wer FrankTheTank ist.

Was im Analogen Konsens ist (beleidigen, bedrohen kann als Straftat wirksam verfolgt werden) ist auch im Digitalen kein Albtraum. Wer Bürger- (und Rechts)verachtung erleben möchte, der recherchiere nur mal ein bis zwei Stunden zu Falschbehauptungen sowie sexistischen und rassistischen Bedrohungen im Digitalen - ein Albtraum.

Oliver Kleindiek, Hamburg

Es geht um den Kern von Artikel 5

Die berechtigte Diskussion um Anonymität im Netz führt zwangsläufig zu der Frage, was der Schutz der freien Meinungsäußerung durch Artikel 5 Grundgesetz (GG) umfasst. Ist eine Meinungsäußerung schon allein bei Abgabe/Veröffentlichung als "frei" geschützt oder ist sie es erst dann, wenn sie bei Adressaten frei, offen ankommt? Meines Erachtens gehört zur Freiheit des Äußernden auch die Freiheit der Äußerung, die Freiheit/Offenheit des "Absenders" von Verschleierung, Maske und Anonymität. Bei der Schaffung des Artikel 5 GG konnte sich niemand Netz-Plattformen vorstellen, auf denen jedermann, auch anonym, Sudeleien, Fake News, extreme Botschaften aller Art, ja sogar Beifallskundgebungen zu Schwerstverbrechen, in die Welt schicken kann. Da helfen auch Straf- oder Zivilgerichtsbarkeit kaum, da es selbst mit ihrer Hilfe nur sehr selten gelingt, die ausländischen Betreiber der Plattformen zur Bekanntgabe der Klarnamen zu zwingen. Spätestens das Bundesverfassungsgericht wird zu klären haben, ob Artikel 5 GG auch die Freiheit von Anonymität erfordert.

Dr. Ludwig Kippes, Puchheim

Argumentieren statt moralisieren

Ronen Steinke kann durchaus gute Gründe gegen die Klarnamenpflicht im Internet anführen. Er erwähnt auch Gründe, die für diese Pflicht sprechen, allerdings in einer moralisierenden Art, mit der er Befürworter der Klarnamenpflicht im Internet abwertet. Er wirft ihnen vor, "dass sie nicht wissen, wovon sie reden", wirft ihnen "Bürgerverachtung" und "Unkenntnis des Rechts" vor, ohne sich die Mühe zu machen, solche schwerwiegenden Unterstellungen zu belegen. Wer sich in einer so respektlosen Art und Weise über Menschen mit einer anderen Meinung hermacht, sollte wissen, dass er damit seine eigenen Argumente unglaubwürdig erscheinen lässt. Denn der Leser hat den Eindruck, als würde der Kommentator sich in seiner eigenen Echoblase so wohlfühlen, dass er sich mit Gegenargumenten nur noch oberflächlich-polemisch auseinandersetzen kann. Ich finde es schade, wenn die Debattenkultur auf das Niveau einer gegenseitigen Beschimpfung herabsinken würde.

Dr. Hans-Joachim Schemel, München

Destabilisierung der Demokratie

Mit einigem Entsetzen habe ich den Kommentar von Ronen Steinke betreffend Anonymität im Internet zur Kenntnis genommen. Da unterstellt er pauschal Unkenntnis des Rechts, selbst Jurist und anscheinend etwas weltfremd - zugunsten seiner Person möchte man annehmen, dass er noch nie politisch aktiv war. Wer das Bedürfnis hat, öffentlich über andere seine Meinung kundzutun, möge doch bitte auch dazu stehen! Was hat man früher mit anonymen Briefen getan? Sie am besten ignoriert oder weggeworfen, im Internet leider kaum möglich. Hier versteckt man sich hinter scheinbar berechtigter Anonymität und erlaubt sich so ziemlich alles.

Geradezu infam aber das scheinbare "Totschlagargument" bezüglich betroffener schwulen Menschen oder kinderloser Paare. Was soll das? Wer meint, über andere urteilen und sich äußern zu müssen, möge auch dazu stehen. Wie natürlich auch Dr. Steinke. Soweit ist das ja in Ordnung. Eine Klarnamenpflicht wäre das normalste im Falle öffentlicher Meinungsäußerung über Dritte.

Max Veicht, Eggenfelden

Digital fehlt die Kontrolle

Sicher ermöglicht die Anonymität im Internet manche Freiheiten - aber leider gefährdet sie gerade dadurch unsere Freiheit. Denn über Jahrtausende zivilisatorischer Entwicklung haben sich in der analogen Kommunikation Umgangsformen bewährt, die unter anderem die Gebote der Höflichkeit, der zwischenmenschlichen Wertschätzung und des jeweiligen gesellschaftlichen Wertesystems berücksichtigen. Deren Einhaltung wird durch die emotionale, soziale und rationale Kontrolle gewährleistet, die offene persönliche Kommunikation zwangsläufig mit sich bringt. Der anonymen digitalen Kommunikation fehlen dagegen diese Kontrollmechanismen. Es resultieren unreflektierte Befindlichkeitserleichterung, Lüge, Hass und Herabwürdigung, die für sich schädlich sind, aber auch einer individuell und gesellschaftlich nutzbringenden Meinungsbildung aller Beteiligten zuwiderlaufen.

Hinzu kommt: Wenn Freiheit die Möglichkeit ist, sich in seinem Wertesystem frei orientieren zu können, wird diese nicht nur durch die schiere Fülle an im Netz verfügbaren Informationen erschwert, sondern durch die nicht mehr erkennbare Gewichtung, manipulative Vorauswahl durch Plattformen wie Facebook und Google oder sogar bewusste Verfälschung (etwa durch sogenannte Troll-Armeen) von Informationen grundsätzlich infrage gestellt.

Kurzum, das Internet ist zu missbrauchsanfällig, um es der Anonymität zu überlassen. Genauso wenig, wie der Verzicht auf die Kennzeichenpflicht im Straßenverkehr die Sicherheit und damit die Freiheit des einzelnen Verkehrsteilnehmers erhöhen würde, dürfte dies für den anonymen Datenverkehr im Netz zutreffen. Die weltweit zunehmende Destabilisierung der demokratischen Meinungsbildung könnte jedenfalls damit zu tun haben.

Peter Dreger, Heidelberg

Verhalten und Verantwortung

Das abscheuliche Verhalten in den sozialen Medien, das den Mord am Regierungspräsidenten Lübcke begleitete, wird sich so lange fortsetzen, solange die Teilnehmer anonym bleiben. Der Mensch ist leider nicht nur edel und gut, wenn überhaupt, vielleicht nur selten. Verhalten ohne die Möglichkeit der Verantwortung zerstört jedes menschliche Zusammensein.

Prof. Dr. Götz Uebe, Ludwigslust

© SZ vom 27.06.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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