Süddeutsche Zeitung

Kinder in der Pandemie:Alarmierende Entwicklungen

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Corona lege altbekannte Defizite im Schulbetrieb offen. Mehr Digitalisierung führe zur Enfremdung von der Natur.

Zu " Verloren in Deutschland" vom 8. September sowie zu " Pandemie lastet auf Kinderseelen" und " Die Not der Kinder", beide vom 11. August:

Was Digitalisierung gefährdet

Gerhard Matzig beleuchtet in "Verloren in Deutschland" vermeintliche Corona-Folgen für die Generation der nach 2010 Geborenen. Die Polemik dabei liest sich gut, und darf ruhig mal sein. Am Inhalt jedoch müssen Zweifel angemeldet werden. Denn, auch wenn man es fast vergisst: Es gab auch mal eine Zeit vor Corona. Und da lebte diese Alpha-Generation ebenso bereits, war frühkindlichen (und damit prägenden) Einflüssen ausgesetzt und spielte damals schon mehr am Bildschirm als im Freien. So wie der Autor einseitig die Schuld der Pandemie zuschiebt (die das vorherige Malheur durchaus verstärkt hat), so erlaube ich mir, einseitig die Schuld der Digitalisierung und Technisierung unseres Alltags zu geben.

Während Milliarden Euro für den digitalen Bildungspakt zur Schaffung von schulischen Großraumbüros investiert werden, immer angefeuert von undifferenziert digitalisierungsgläubigen Medien und Politikern, gibt es lange schon Berichte über eine "Naturdefizit-Störung", einen rückläufigen Naturbezug von Kindern (und auch Erwachsenen). Schwindende Wildnisbereiche, Flächenversiegelung und stilles Sitzen auf Schulstühlen tragen ebenso dazu bei wie Ängste von Eltern beim Spielen der Kleinen im Freien und der auch von Matzig aufgespießte SUV-Transportservice. Folgen sind körperliche Inaktivität, mehr Fettleibigkeit, aber auch geringere Fantasie und Kreativität sowie verminderte sprachliche und motorische Fähigkeiten.

Aber Natur ist heute ähnlich old-fashioned wie Papier und Fax und erzeugt allenfalls ein müdes Lächeln über Ewig-Gestrige. Dabei ist belegt, dass umweltbasierter Unterricht mit vermehrten Aktivitäten im Freien Kenntnisse in den sozialen Fächern, Naturwissenschaften, Sprachen und Mathematik fördert, ebenso aber auch Problemlösungsfähigkeiten, kritisches Denken und Entscheidungskompetenz verbessert.

Dr. Andreas Meißner, München

Corona offenbart alte Defizite

Fürwahr ist es alarmierend, wie psychische Erkrankungen bei Kindern zunehmen und welchen Einfluss die verschiedenen Pandemiemaßnahmen dabei haben. Nur: Wieso nimmt Berit Uhlmann ausgerechnet die Schulen in die Pflicht, die von allen Institutionen am wenigsten Einfluss haben, weil sie am Ende einer langen Befehlskette stehen? Von "oben" kommen ganz andere Anweisungen und Zeichen zu den Ideen der Schulen: "Lerndefizite hintanstellen und sich erst um die Kinderseelen kümmern?" Das können die Schulen gerne machen, wenn sie bis Ende des Schuljahres den Lehrplan durchbringen. "Angsteinflößende Situationen meiden?" Nein, im Gegenteil: Dank Maskenpflicht auch im Klassenzimmer stellen wir die Angst auch sichtbar wieder in den Mittelpunkt; Eltern waren bei der Neueinschulung der Fünftklässler teilweise pandemiebedingt nicht erlaubt, das werden die Kleinen doch wohl auch ohne Begleitung in der neuen, großen, unbekannten Umgebung schaffen.

"Den Sozialpädagogen mit einbinden?" Den fordert unsere Schule seit Jahren, leider bisher ohne Erfolg, denn es gibt angeblich Wichtigeres. "Mit externen Stellen zusammenarbeiten?" Therapeuten und psychiatrische Kliniken sind proppenvoll und für Monate ausgebucht, an eine Weiterbegleitung psychisch kranker Jugendlicher ist nicht zu denken; aus der Not heraus bietet unser Schulpsychologe aus dem Urlaub heraus Fernbetreuung über Chat und Telefon an, um die Kinder nicht ganz alleinezulassen. Ferien-Lernkurse wurden hektisch eingerichtet, psychosoziale Betreuung nicht!

Wären die Probleme nicht seit Jahren bekannt, müsste meine Verzweiflung nicht ganz so groß sein. Die Pandemie hat leider nur das offensichtlich gemacht, was davor schon im Argen lag. Die Fernbetreuung der Schüler findet nach wie vor meistens über den privaten Rechner statt, weil die seit einem Jahr versprochenen Lehrerdienstgeräte immer noch nicht angekommen sind; einer Ausweitung von Therapeutenstellen widerspricht die Kassenärztliche Vereinigung mit dem Hinweis auf ein "ausreichendes Angebot".

Holger Nachtigall, Sachsenried

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Quelle:
SZ vom 22.09.2021
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