Süddeutsche Zeitung

1991:Ein Dorf, das Todfeinde als Nachbarn hat

Wie die Bewohner einer kroatischen Ortschaft vom Nationalitätenkonflikt mit den Serben eingeholt und zu Flüchtlingen gemacht wurden

Von Egon Scotland

Am 26. Juli 1991, einige Monate nach Kriegsausbruch zwischen Serbien und Kroatien, wurde der damalige SZ-Korrespondent Egon Scotland im kroatischen Dorf Jukinac im Auto eines Kollegen angeschossen. Er starb auf dem Weg ins Krankenhaus im Alter von 42 Jahren. In diesem Text, der einige Tage zuvor erschien, beschreibt Scotland die letzten Tage des slawonischen Dorfs Ćelije.

Hunde und Katzen sind nicht die einzigen Tiere, die durch die verlassenen Gassen von Ćelije streifen. Der Bauer Hubak Zefilo schiebt eine Liste über den Tisch. "60 Kühe, 72 Muttersauen, 247 Mastschweine, 338 Ferkel, zehn Ziegen, sieben Schafe, sechs Lämmer, drei Zicklein." Das Vieh und 40 Hektar erntereifer Weizen, Mais- und blühender Sonnenblumenfelder - sie waren der ganze Reichtum von Ćelije, einem Dörfchen in der pannonischen Tiefebene, nicht weit vom Zusammenfluß der Drau und der Donau, rund zehn Kilometer südlich der slawonischen Hauptstadt Osijek gelegen, im Ostzipfel Kroatiens. Die Grenze zu Serbien ist nah.

Um Geographie hatten sich die Dörfler bisher nicht viel scheren müssen, und um Politik auch nicht, wenn man von den Folgen des Zweiten Weltkriegs absieht. Denn eigentlich waren alle Familien Einwanderer gewesen, umgesiedelt aus Zagorje im Karstgebirge Westkroatiens. Die Volksdeutschen Slawoniens, 1945 zu Flüchtlingen geworden, hatten hier leere Häuser und Höfe auf fruchtbarem Boden zurückgelassen - jetzt stehen viel mehr Häuser leer. Vor der Ankunft der neuen Bewohner war das Dorf Jagdrevier der Grafen von Eltz. Deren Schloß in der Nähe war bis vor kurzem genauso leicht zu besichtigen wie ihre berühmte Burg bei Koblenz, deren Bild 500-Mark-Scheine schmückt.

Die jungen serbischen Burschen wurden den Kroaten immer unheimlicher

Daß neue Jagdherren kommen würden, um ihrer Lust auf besonders eigenartige Weise zu frönen, ahnte Zefilo als einer der ersten in Ćelije. Im vergangenen Jahr kam der Bruder seiner serbischen Frau zu Besuch. Und der Schwager gestand ihm, er habe zwei Wagenladungen Gewehre in der Gegend zu deponieren. Das sprach sich bald herum, und Zefilo war nicht der einzige, der sich auf dem Schwarzen Markt ein Jagdgewehr mit doppeltem Lauf besorgte, 16 und zwölf Millimeter, sowie für 1000 Mark Munition, "die Patrone zu drei D-Mark", wie er vorrechnet. (Deutsches Geld ist angesichts der schubweise zerfallenden jugoslawischen Landeswährung ein fester Wertbegriff in Ćelije.) Weniger Begüterte bastelten sich vorsorglich primitive Böller aus Eisenrohren.

"Bozo Petrovic, das Oberhaupt der Tschetniks von Bobota, wußte, was die Leute zu Hause haben. Mir sagte er, wenn ich ihm verrate, wer der mit den drei Gewehren ist, würde er mir nichts tun", erzählt Zefilo. Er weigerte sich ebenso wie die anderen, die Waffen abzuliefern. Eigentlich hatten sie nichts gegen die Serben aus dem benachbarten Bobota. Serben gibt es in dieser Gegend viele, und sie haben etliche eigene Dörfer. Aber das Treiben der jungen serbischen Burschen mit der Schajkatscha auf dem Kopf war den Kroaten immer unheimlicher geworden. Petrovic, in Bobota Chef der wiederbelebten Freischar, hat seinen Partisanen-Namen "Zigula" aus der Zeit des Bürgerkriegs in den vierziger Jahren behalten. Auch die Kokarde auf den Mützen ist die gleiche: Ein Kreuz in Gold, viermal mit dem Buchstaben "S" in kyrillischer Schrift verziert. Das steht für "Samo sloga Srbina spasava", zu Deutsch: Nur Eintracht erlöst die Serben. Die Furcht vor solchen Nachbarn brachte die Frauen von Ćelije am 24. Juni dazu, sich samt ihren Kindern mitten auf die Straße zu setzen, damit ein Trupp von einem guten Dutzend regulärer Soldaten ihr Dorf nicht wieder verlassen konnte. Ihre Blockade dauerte bis zum nächsten Morgen. Dann einigten sich der Zugführer und die Bewohner, eine gemeinsame Kolonne zu bilden, hinaus aus dem Ort, Richtung Osijek. "Der Unteroffizier sagte zu meiner Frau: ,Von Bobota haben wir eine Warnung gekriegt.'" Nun erschienen freilich Kapo Petrovic und sein Kumpan "Tuscha" auf der Szene, hinter sich im Lada einen Tschetnik mit Maschinenpistole und Patronengurt um die Schulter. "Als ihm der Unteroffizier sagte: ,Du darfst uns hier nicht behindern', antwortete der Bandenchef, ,das werden wir noch sehen.'"

Greise, Frauen und Kinder wurden zurück in die Häuser geschickt, "die Männer organisierten die Abwehr", das heißt, sie holten ihre Schießeisen aus den Schränken, bezogen die abgesprochenen Positionen, während die zwei Armeetransporter mit dem Dutzend Soldaten davonfuhren. Telephonisch baten die Leute von Celije in der Provinzhauptstadt um Hilfe. Bauer Hubak ärgert sich noch heute: "Es kamen gegen halb elf Uhr aber bloß 40 Leute von der Reserve der kroatischen Nationalgarde, nicht die richtigen." Die Nacht war dennoch ruhig, "wahrscheinlich, weil es neblig war und die Tschetniks ihre Gegner nicht zählen konnten". Nur ein Schuß aus einem Panzergeschütz krachte um Mitternacht, "damit wir sehen, was sie für Kräfte haben". Barrikaden bauten die Dörfler keine. "Wir wollten nicht provozieren."

Ein paar Tage lang verköstigte der einzige kleine Lebensmittel-Laden im Dorf die Garnison der Reservegardisten, bis kein Kaffee, kein Zucker, keine Zigaretten und kein Bier mehr da waren. Dann löste ein Versuch, Proviant von außen in die belagerte Siedlung zu bringen, in diesem Dorf die heiße Phase eines Krieges aus, der, nicht immer so blutig, in den gemischtbesiedelten Gebieten entlang der Südgrenze Kroatiens seit vielen Wochen geführt wird. Er weitet sich einstweilen noch aus, allen Waffenstillstandsabkommen zum Trotz. Und wenn von der Gefahr die Rede ist, Jugoslawien drohe in einem Bürgerkrieg unterzugehen, dann lachen Leute wie Bauer Hubak bitter. Sie finden, daß der Untergang bereits stattgefunden hat, und sie sehnen sich nicht nach einem Land, in dem ein Freund der Tschetniks, wie Serbiens Präsident Slobodan Milošević, das Kommando führt.

Wie ein Vorbote des Unheils erschien der serbische Schwager im Dorf

Der Exodus aus Ćelije spielte sich, wenn man den Aussagen seiner früheren Bewohner folgt, ungefähr so ab: Von der Spitze des Getreidesilos im ebenfalls mehrheitlich serbisch bewohnten Nachbarort Silaš wurden am 4. Juli Schüsse abgefeuert, trafen zwei kroatische Gardisten tödlich und verletzten drei. Die Dörfler eilten den Verwundeten zu Hilfe. Zur selben Zeit fuhr ein Lkw mit Tschetniks beim katholischen Friedhof vor. Die Freischärler bezogen Position hinter einer Anhöhe und schossen mehrere Salven über die Häuser hinweg. Einwohner schrien die Eindringlinge an. Die brüllten unflätig zurück, sie hätten es wohl mit der verrufenen "Mutter der Ustaschi" zu tun, jener faschistischen kroatischen Kampftruppe, die unter dem Patronat Adolf Hitlers Hunderttausende Serben, Juden und Zigeuner hingemetzelt hatte. In den Augen der Tschetniks stellt die leicht bewaffnete Nationalgarde der abtrünnigen jugoslawischen Teilrepublik Kroatien eine Ustaschi-Nachfolgeorganisation dar. Angehörige dieser Garde erwiderten das Feuer aus automatischen Waffen über den Hügel beim Friedhof, und die Tschetniks zogen sich von dort langsam wieder zurück. Niemand schlief in der Nacht darauf in Ćelije. "Wir haben gedacht, das ist alles", erinnert sich Zefilo, "was Schlimmeres passiert uns nicht mehr."

Wie ein Vorbote des Unheils erschien dann sein serbischer Schwager im Dorf. "Er kam allein, so zwischen vier und fünf Uhr. Sie dürfen seinen Namen nicht schreiben, sonst kann er auch erschossen werden. Wir haben ihn nicht zu den Gardisten gelassen, weil wir ihn schützen müssen. Er kommt rein, streitet mit meiner Frau, sagt dann, wir sollten Frauen und Kinder in Sicherheit bringen. Ein Granatwerfer sei in Bobota in Stellung gebracht, drei Kilometer entfernt, auf uns gerichtet. Meine Frau hat ihm nicht geglaubt, die Nacht blieb dann auch still, bis zum Morgen."

An diesem Sonntag, dem 7. Juli, fiel in Ćelije die Sonntagsmesse in der Herz-Jesu-Kirche aus, weil Kaplan Bubalo Marko, der sonst immer seine Gottesdienst-Tour durch mehrere Dörfer machen muß, keinen Zugang mehr über die gesperrten Straßen fand. Der Mittagstisch im Hause Hubak war gegen halb zwölf schon gedeckt, da explodierten siebzehn Granaten am Ortsrand. Über Zefilos bärtiges Gesicht geht ein Grinsen: "Keine Fachleute. Sie hatten die falschen Koordinaten." Doch die Dörfler sahen bald, daß ihre Angreifer diese Scharte auszuwetzen versuchten. Ein paar Tschetniks schleppten einen zerlegten Granatwerfer in die Nähe, nahmen lachend ein paar Schlucke Slibowitz zu sich und montierten den Apparat zusammen.

Nur 26 Gardisten und zwei Einwohner blieben zurück

Die Angst in Ćelije wuchs. Ehe das Bombardement begann, fanden die Einwohner jedoch Schutz. Zefilos Anwesen hat als eines der wenigen im Ort einen Keller. 50 Frauen und Kinder kauerten hier neben der Zentralheizung, die übrigen hockten in einem Keller hinter der Schule. "Volle vier Stunden dauerte die Aktion", berichtet der Mann jetzt ganz sachlich. "Die Tschetniks hatten endlich die richtigen Koordinaten, und wir kriegten eine Menge Treffer ab. Per Funk riefen wir wieder nach Hilfe und nach Schutz der Armee für die Krankenwagen. Die Hilfe kam auch, aber wegen der Straßensperren erst gegen fünf Uhr nachmittags. Die Garde hier bei uns hatte einen Schwerverletzten mit einem Bauchdurchschuß. Zwanzig Minuten lang blieben drei Militärtransporter und zwei Krankenwagen im Dorf. Dann fuhren sie wieder fort und wurden auf dem Rückweg beschossen.

Bei einem zweiten Funkkontakt baten die Eingeschlossenen von Ćelije in der Provinzhauptstadt um Waffen und darum, die Frauen und Kinder in Sicherheit zu bringen. Sie hörten, daß eine Kolonne unterwegs sei. Als der Kommandeur der Volksarmee gegen 19.30 Uhr eintraf, eröffnete er den Bürgern von Ćelije, er sei nur mit dem Abtransport der Verletzten beauftragt. Wieder setzten sich Frauen und Kinder auf der Straße nieder, um den Konvoi am Wegfahren zu hindern. Als der Offizier, ein junger Leutnant, das sah, gab er auf eigene Verantwortung nach und befahl den Dorfbewohnern, sich binnen zwanzig Minuten zur Abfahrt bereitzumachen. Nur 26 Gardisten und zwei Einwohner blieben zurück. Sie folgten noch in der Nacht zu Fuß. Der Rest, 156 Menschen, machte sich mit hastig zusammengerafften Habseligkeiten nach Osijek auf, in Autos und auf Traktoren, ein Trümmerfeld hinter sich lassend.

Asyl im Studentenheim

Die Flucht über eine Distanz von höchstens zehn Kilometern begleitete ein bewaffneter Düsenjäger, knapp über den Baumwipfeln fliegend. Die Flüchtenden empfanden das freilich nicht als schützende Eskorte, sondern als zusätzliche Bedrohung. Der Armeeleutnant geleitete sie sogar weiter, als er zunächst versprochen hatte, bis hinter eine Brücke, die einen fünf Meter breiten Kanal überspannt. Er blockierte sogar einen Nebenweg, aus dem Tschetniks hätten kommen können. Um halb elf nachts erreichten die Vertriebenen das Rathaus von Osijek. Der Eingang war seit Wochen mit Sandsäcken und Geschützen befestigt. Der Bürgermeister empfing eine Abordnung der Asylsuchenden. Das Rote Kreuz quartierte sie in zwei Studentenheimen ein. Dort sitzen sie noch heute.

Inzwischen hat Bauer Zefilo Hubak bei einer Kundgebung auf dem prächtigen Platz der Republik in der 290 Kilometer entfernten Landeshauptstadt Zagreb die längste Rede seines 37-jährigen Lebens gehalten. In zehn Minuten hat er dort die vierzehn letzten Tage von Ćelije zu erzählen versucht, obwohl eigentlich auch die drei Stunden mit zwei Reportern in der Verwaltungsstube des Studentenheims von Osijek nicht ausreichten. Was ihn bei diesem Auftritt bewegte? "Daß die Kroaten in Zagreb noch immer die kroatische Freiheit feiern. Die sollten hierher nach Slawonien kommen und uns helfen, wirklich frei zu werden." Der Veranstalter der Kundgebung, Marko Veselica, einst Sozialist, dann Verfolgter des Tito-Regimes, ist jetzt Vorsitzender der kleinen, in rechter Opposition zum konservativen kroatischen Staatspräsidenten Franjo Tuđman stehenden Demokratischen Partei. Er drängt auf die Bewaffnung des Volkes. Die Gedanken seines Anhängers Zefilo und seiner längst bewaffneten Mitbürger aus Ćelije aber kreisen um die Ernte, die nun nicht eingebracht werden kann, die wahrscheinlich verlorene Arbeit eines ganzen Jahres, um die verwüsteten und verbrannten Häuser und um ihr zurückgelassenes Vieh.

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