Süddeutsche Zeitung

Jürgen Habermas:Stärker auf einen Frieden konzentrieren

In seinem Plädoyer empfiehlt Philosoph Jürgen Habermas dem Westen zum Ukraine-Krieg, Absichten zu formulieren und Verhandlungen zu führen. Die Leserschaft ist gespalten.

"Ein Plädoyer für Verhandlungen" und "Was treibt diesen Mann?" beide vom 15. Februar:

Endlich rationales Denken

Der Philosoph Jürgen Habermas bricht den Bann des "bellizistischen Tenors der öffentlichen Meinung" und öffnet eine verengte Diskussion. Somit erweitert er die Möglichkeiten zur Gestaltung des Friedens. Wir beobachten in der Ukraine "strategisch sinnlose Blutbäder" (John Keegan, Das Antlitz des Krieges, 1978), weil beide Seiten einen Siegfrieden nicht erreichen können. Nicht Waffenlieferungen an sich, sondern nach oben offene Waffenlieferungen verlängern den Krieg.

Russland ist strategisch nicht besiegbar. Es kann mehr Menschen mobilisieren, hohe ökonomisch-logistische Kriegskräfte entfalten und zunehmend "lernen", taktisch auf dem Gefechtsfeld besser zu werden und die "Moral der Truppe" zu heben. "Standhalten gegen die NATO" als russisches Narrativ bedeutet doch, dass Putin nicht mehr über die Ukraine siegt, sondern über Europa! Dieses Narrativ mobilisiert nationale Kräfte und einigt!

Neben der Aufrechterhaltung der Verteidigung der Ukraine (als westliches Kriegsziel, nicht der Zurückgewinnung der Krim) gilt es jetzt, die Möglichkeit eines Verständigungsfriedens mit allen politischen Mitteln auszuloten. Hierzu müssen zunächst die Amerikaner und Russen an einen Tisch; das ist kein Einknicken, das ist klug und kann den Anfang einer Friedenslösung bedeuten. Und Habermas, ganz rational, deutet einen gesichtswahrenden Kompromiss an: der Status quo ante vom 23. Februar 2022.

Deutschland hat keine strategischen Denker. Ein Philosoph zeigt neue Wege vernünftigen Denkens. Einige Fernsehrunden, Politiker und Leitartikler neigen dazu, ihre Argumente moralisch aufzuladen, ohne die abwägende politisch-strategische Klugheit hinzuzuziehen. Hieraus entsteht eine Koalition der Kriegsverlängerer, die der Chimäre eines Siegfriedens anhängen.

Henning Klement, Dresden

Fehlende Realpolitik

Der Artikel von Jürgen Habermas thematisiert die Frage, inwieweit Friedensverhandlungen zwischen der Ukraine und Russland angesichts eines zunehmenden Stellungs- und Abnutzungskrieges, der mit enormen menschlichen und materiellen Verlusten einhergeht, gerade jetzt angestoßen werden sollten und können. Er bemüht viele Vergleiche aus ähnlichen Situationen in vergangenen Kriegen, stellt den Begriff und die Interpretationsmöglichkeiten des Wortes "Sieg" in diesem Zusammenhang in den Raum und benennt das Dilemma der westlichen Unterstützer der Ukraine.

Ehrlich gesagt, ich hatte mir mehr erwartet. Der Kommentar verfängt nicht, es werden viele Aspekte angerissen. Die Position von Habermas selbst bleibt vage und zu geschichtsorientiert. Vorschläge und Perspektiven fehlen. Bestimmt laufen bereits Gespräche zwischen europäischen Regierungschefs und Putin im Hintergrund, aber anscheinend erfolglos und ins Leere. Angesichts des strategischen Vorgehens, mit dem Putin jeglichen innenpolitischen Widerstand eliminiert hat, ist ein Einlenken nicht zu erwarten. Putin hat sich selbst in eine für ihn und sein Land ausweglose Situation manövriert, aus der er ohne Machtverlust nicht herauskommt.

Jegliche Zugeständnisse seinerseits würden eben das bedeuten. Der Vergleich mit Hitlerdeutschland an dieser Stelle ist eigentlich unausweichlich und zeigt die perfide Einbahnstraße Putins mit dem auf ihn eingeschworenen Großteil der russischen Bevölkerung. Da die Ukraine einerseits zu schwach ist, es andererseits wohl nicht um einen Sieg über Putin gehen kann, stellt sich die Frage des "Sieges" aus meiner Sicht nicht. Vielmehr befürchte ich, dass es wohl auf einen fortwährenden Abnutzungskrieg hinauslaufen wird, bis einer der beiden Beteiligten - oder beide - nicht mehr können.

Der Westen als Beteiligter, der sich nicht mit Soldaten beteiligen sollte, muss dennoch anfangen, klare Bedingungen parallel und in Absprache mit der Ukraine zu formulieren, zu denen wenigstens ein Waffenstillstand ermöglicht werden kann. Putin hat dafür sicher längst einen Preis genannt, von dem die Öffentlichkeit nichts weiß, der aber vermutlich Forderungen impliziert, die derzeit nicht verhandelbar sind. So wird das Sterben wohl noch andauern. So bleibt dieser Gastbeitrag leider da stecken, wo ich mir mehr als ein Auflisten von Tatsachen versprochen habe.

Oliver Schulze, Detmold

Hirnkastl justiert

Jürgen Habermas erklärt die unterschiedlichen Ziele des angegriffenen Staates und der ihn unterstützenden waffenliefernden Nationen. Er setzt auf rationalen Diskurs. Kurt Kister legt für ungeübtere Habermas-Leser aus und ordnet auf exzellent journalistische Weise ein.

Vor 13 Monaten noch hätte ich mich selbst spontan als Pazifistin bezeichnet. Nach dem 24. Februar wurde auch für "Schöngeister" wie mich evident, wie lebenswichtig Selbstverteidigung im Angriffsfall ist und ein Gerüstetsein für den Fall eines Überfalls. Da gab es schon viel im Hirnkastl zu justieren, denn ganz egal ist auch mir nicht, in welchem Staat bei welchem persönlichen Freiheitsgrad ich mein Leben führe. Aber dann kamen die fortschreitenden und immer höher spezialisierten Waffenlieferungen an das geschundene Land, und irgendwann wurde das Unbehagen fast unerträglich, dass es aus dieser Situation nur Eskalation und kein Entrinnen mehr geben könnte. Wie gut, dass ein kluger Mensch nun erklärt, dass sich Ziele des angegriffenen Staates und der ihn unterstützenden Länder unterscheiden und dass Letztere auf Verhandlungen hinwirken müssen, und zwar aus eigener Verantwortung für die durch die gelieferten Waffen entstehenden Folgen für Menschen und Land. Was für diese Zeiten Wertvolleres hätte das Erbe aus Philosophie und Geschichte im Abendland hervorgebracht?

Marieberthe Hoffmann-Falk, Buchbach

Blutleere Vorlesung

Die Resonanz auf den Artikel von Habermas bewegt Kurt Kister zu einer Antwort, die ich in weiten Teilen nachvollziehen kann, vor allem die Klage über die mangelnde Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit anderen Positionen. Verwirrend für mich ist allerdings, dass dafür als Anknüpfung ausgerechnet die "Denkschrift" Habermas' herhalten muss. Der seit meinen Studienzeiten für mich hochgeschätzte Sozialphilosoph ist mir in seiner Diktion so sehr vertraut, dass ich ohne Weiteres zu behaupten wage, dass es sich bei diesem Beitrag um eine verblasene Schnurre handelt, die sich aus seit Jahrzehnten bekanntem Gedankengut speist und mich gerade auf philosophischer Ebene völlig kalt lässt. Da geht es mir wie mit Bob Dylan und ähnlichen Ikonen meiner Aufbruchszeit: Sie verblassen zur Unkenntlichkeit und Austauschbarkeit. Habermas hat mir, der Debatte und vielleicht auch sich selbst keinen Gefallen getan.

Zumindest erhellen und bereichern meines Erachtens solche Beiträge nicht, stellen entferntere Standpunkte nicht versöhnlicher und attraktiver dar. Dagegen wunderbar erhellend, auch in philosophischer Hinsicht: Wolodymyr Jermolenko im Interview mit Cathrin Kahlweit. Diese weiträumig begründete Innenansicht kann sicher mehr für eine fruchtbare Debatte leisten als die Blutleere der Habermasschen Vorlesung. Vielleicht auch für Sie, lieber Herr Kister, eine Gelegenheit, vertraute Standpunkte zu überdenken.

Enrique Lohmann, Simbach

Nach Frieden sehnen

Als unbestechlicher großer Denker hat Professor Habermas wiederum mit einer klaren Analyse die trübe Debatte um den Krieg in der Ukraine erhellt. Für sein überzeugendes Plädoyer für die Aufnahme von Verhandlungen, das den Teilnehmenden der Münchner Sicherheitskonferenz als Pflichtlektüre zu wünschen ist, gebührt ihm außerordentlicher Dank. Seine hellsichtige Differenzierung der Bedeutungen von "Die Ukraine darf den Krieg nicht verlieren" und "Die Ukraine muss siegen" führt zu dem überzeugenden Schluss, dass es dringend geboten ist, den schwierigen Weg hin zu Verhandlungen einzuschlagen und eine für beide Seiten gesichtswahrende Lösung zu suchen.

Der völkerrechtswidrig von Putin entfesselte Krieg hat schon viel zu viel Gewalt und Zerstörung verursacht und darf nicht durch die Lieferung immer potenterer Waffen weiter in die Länge gezogen werden. Zu Recht warnt Professor Habermas davor, dass wir nicht schlafwandlerisch in einen dritten Weltkrieg hineintreiben dürfen. Stattdessen sollte der Westen jetzt alles dafür tun, dass die Kriegsparteien endlich Verhandlungen aufnehmen, um das zu erreichen, was eine vernunftbasierte Ethik gebietet und wonach wir uns alle sehnen: den Frieden.

Dr. Gabriele Hartl, München

Ein Hoffnungsschimmer

In Bezug auf den gesellschaftlichen Diskurs hebt Habermas hervor, dass in der veröffentlichten Meinung der letzten Monate kaum die Sorgen derer, die sich bei Waffenlieferungen eher zögerlich verhielten, adäquat abgebildet wurden. Denn immerhin betrifft dies etwa die Hälfte unserer Bevölkerung.

Ein Plädoyer für Verhandlungen wurde in den vergangenen Monaten jedoch bereits explizit (US-Generalstabschef Milley) oder implizit (NATO-Generalsekretär Stoltenberg) geäußert. Die moralische und geistige Reputation von Habermas lässt hoffen, dass sein Plädoyer Beitrag und Anstoß für eine zukünftig ausgewogene Debatte und Berichterstattung sein kann.

Im Übrigen gibt es Ansatz- und Anknüpfungspunkte für einen Verhandlungsprozess. So hat sich der brasilianische Präsident bereits als Vermittler zur Verfügung gestellt. Dieser könnte eine Kontaktgruppe bilden und versuchen China mit ins Boot zu holen, dessen Regierung einen nennenswerten Einfluss auf die russische hat. Angeknüpft werden könnte an die Verhandlungsbemühungen des israelischen Ex-Premiers Bennett im März vergangenen Jahres.

Reiner Gorning, Hamburg

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