1945:Die Geburt der Süd­deutschen Zeitung

Lesezeit: 7 min

Aus dem eingeschmolzenen Bleisatz von Adolf Hitlers "Mein Kampf" entstehen die Druckplatten für die erste Ausgabe der SZ.

Von Werner Friedmann

Wenige Monate nach Kriegsende in Deutschland übergab der US-amerikanische Oberst Bernard B. McMahon die Presselizenzen an drei als unbelastet geltende Deutsche - die neuen Herausgeber der Süddeutschen Zeitung. Hier beschreibt der spätere SZ-Chefredakteur Werner Friedmann (1909 - 1969), wie er diesen historischen Tag erlebt hat.

Samstag, 6. Oktober, 11 Uhr. In die Klänge des wiederauferstandenen Münchner Glockenspiels hinein tönen im geschmückten Rathaussaal, von Vertretern der Militärregierung und der bayerischen Zivilverwaltung, der amerikanischen und deutschen Presse bis auf den letzten Platz gefüllt, die Worte Arthur F. Gereckes, des Chefs der Presseabteilung des amerikanischen Presse-Kontrollamtes:

"Heute, hier im Rathaus, weniger als einen Kilometer von der Stelle entfernt, an der die Nazis vor 22 Jahren ihren Putschversuch unternahmen, glauben wir, daß wir dem wahren Frieden einen Schritt näher gekommen sind. Denn nun wird es möglich sein, daß die demokratischen Stimmen im Zeitungswesen Bayerns nach zwölf Jahren des Stillschweigens wieder gehört werden."

Die Übergabe der Lizenzen an diejenigen, die die Träger dieser demokratischen Stimmen sein werden, an die Herausgeber der Süddeutschen Zeitung, der ersten von jeder Zensur freien deutschen Zeitung in Bayern, durch die Vertreter der amerikanischen Militärregierung bildet den Anlaß der feierlichen Veranstaltung, bei der der neue bayerische Ministerpräsident Dr. Högner, der Arbeitsminister Roßhaupter, die drei Münchner Bürgermeister, an der Spitze Dr. Scharnagl, die Münchner Stadträte, der Polizeipräsident, der Chef der Bayerischen Landespolizei, der Chef des Landesarbeitsamtes und viele andere Männer des öffentlichen Lebens anwesend sind.

Die Uniformen der zahlreichen Vertreter der Militärregierung beleben das festliche Bild. Die Kameras der Wochenschauberichter schnarren, die Scheinwerfer blitzen auf, das Mikrophon ist eingeschaltet - zum ersten Mal führt Radio München die unmittelbare Übertragung eines aktuellen Ereignisses durch. Viele Tausende von Hörern erleben in dieser Stunde die Geburt der Süddeutschen Zeitung an ihren Lautsprechern mit und spüren es ebenso wie alle Augenzeugen, daß der Start eines freien demokratischen Blattes in der größten Stadt der amerikanischen Besatzungszone, die einst den schändlichen Namen "Hauptstadt der Bewegung" trug, wieder einen Schritt vorwärts bedeutet - in eine bessere Welt.

Nach der eingangs erwähnten Begrüßung durch Mr. Gerecke ergreift Oberst B. B. McMahon, der Kommandeur des Nachrichten-Kontrollwesens, das Wort. Er wendet sich an die drei Herausgeber der Süddeutschen Zeitung, Edmund Goldschagg, Dr. Franz Josef Schöningh und August Schwingenstein, und kennzeichnet sie mit einer kurzen Schilderung ihres politischen Werdegangs als bewährte Kämpfer gegen die nazistische Tyrannei.

Er fährt fort:

"Die Amerikanische Militärregierung bezeugt Ihnen Dreien das größte Vertrauen, wenn sie Ihnen heute die Lizenz zur Herausgabe der 'Süddeutschen Zeitung' erteilt. Benutzen Sie sie, um dem deutschen Volk endlich die Wahrheit zu sagen. Machen Sie ihm klar, daß die Deutschen den Krieg verloren haben, weil dieser Krieg von Anfang an unmoralisch war und damit den Widerstand aller zivilisierten Völker hervorrufen mußte. Machen Sie ihm klar, daß es keine Herrenrasse unter den Nationen gibt."

Mit dem Hinweis, daß das amerikanische Volk diesen Krieg nicht wollte und, weil es auch keinen zukünftigen Krieg will, dafür Sorge tragen wird, daß auch Deutschland nie wieder einen Krieg vorbereiten kann, führt Oberst McMahon aus:

"Es ist einmal gesagt worden, daß die Feder mächtiger ist als das Schwert. Sie, meine Herren, haben jetzt die Möglichkeit, diesen Gedanken in die Tat umzusetzen. General Eisenhower hat vor einem Jahr erklärt: 'Wir Amerikaner kommen als Sieger, nicht als Unterdrücker'. Das gilt auch heute noch. Große Teile Deutschlands sind in Trümmerhaufen verwandelt, zahlreiche Städte sind zerstört. Das Reich ist von alliierten Truppen besetzt. Luftwaffe, Wehrmacht und deutsche Marine sind Dinge der Vergangenheit. Die Führer der nationalsozialistischen Partei, die SS-Mörder, Gestapo, Sturmtruppen und Kriegsverbrecher werden die wohlverdiente Strafe erhalten. Das ist die Aufgabe, die wir uns gesetzt haben: Deutschland vom Nationalsozialismus zu befreien. Ihre Aufgabe ist es, aus den Seelen und Herzen der Deutschen den Nazigeist, den Geist des Militarismus auszumerzen. Nur nach diesem Reinigungsprozeß wird Deutschland wieder in der Lage sein, sich als gleichberechtigte und angesehene Nation in die Völkergemeinschaft einzureihen."

Oberst McMahon schließt mit der Aufforderung:

"Lehren Sie die Bürger dieses Landes, daß Menschenwürde ein kostbares Gut ist. Sagen Sie ihnen, daß die Freiheit deren sich friedliebende Völker erfreuen, nur durch anständiges Handeln und saubere Gesinnung erworben werden kann."

Dann überreicht der Oberst die Lizenz:

"Mit besonderer Freude überreiche ich Ihnen nunmehr die erste Zeitungslizenz der Militärregierung Ost. Die 'Süddeutsche Zeitung' wird nicht nur die erste deutsche Zeitung in Bayern, sondern auch die größte Zeitung in der größten Stadt der amerikanischen Besatzungszone sein."

Es folgt die Übertragung der Rede Oberst McMahons ins Deutsche durch Dr. Joseph Dunner, den Presse-Kontroll-Offizier der Militärregierung München. Im Namen der drei Herausgeber spricht Edmund Goldschagg Worte des Dankes. Unter Hinweis auf die Schwierigkeiten, die die erste neue Zeitung in dem Trümmerfeld Münchens überwinden mußte, sagt Goldschagg u. a.:

"Nach zwölf Jahren der geistigen Knebelung gibt es wieder ein freies Schaffen, um das deutsche Volk zu eigenem kritischem Denken, zu einer eigenen Meinungsbildung zu erziehen. Haben doch die meisten Menschen diese Jahre der Hitlerknechtschaft sozusagen auf dem Kasernenhof zugebracht, in dem jeder nicht nur körperlich, sondern auch geistig stramm zu stehen hatte. Freiheit und Presse, Freiheit und Journalismus sind zwei Begriffe, die nicht zu trennen sind. Mit dem Tage, da Deutschland zum Dritten Reiche herabgesunken war, war auch der Beruf des Journalisten, so angesehen er einst gewesen, erledigt. Zwölf Jahre einer geistigen Knebelung sind vorüber. Das deutsche Volk war selbst nicht imstande, aus eigener Kraft das Nazijoch abzuschütteln. Dazu bedurfte es leider eines zweiten Weltkrieges, aus dem die demokratischen Mächte als Sieger hervorgingen. Unsere Leser werden es kaum fassen, daß die Besatzungsbehörde uns in dem uns übertragenen Erziehungswerk am deutschen Volke keine Fesseln anlegt, sondern uns als freie aber verantwortungsbewußte Journalisten schalten läßt, wie es gute demokratische Gepflogenheit ist."

Oberst McMahon lädt nunmehr die Anwesenden ein, sich gemeinsam in das Verlagsgebäude zum Färbergraben zu begeben, um den Start der Süddeutschen Zeitung in feierlicher Form durchzuführen.

In langer Kette rollen die Fahrzeuge mit den Gästen durch die Rosenstraße. Der Himmel meint es - zum Ärger der Kameraleute - "gut", unerschöpflich scheinen seine Schleusen zu sein.

Das Mikrophon auf dem mit den Fahnen Bayerns und Münchens geschmückten Podium im Hofe des Verlagsgebäudes der ehemaligen Münchner Neuesten Nachrichten muß sich einen regenfesten Überzug gefallen lassen, ein Meer von Schirmen wogt zwischen den Trümmern des Verlagshauses, in dem nur eine kleine Anzahl von Räumen - Vogelnestern gleich - noch benützbar sind. Aber das unwirtliche Wetter hält keinen der zahlreichen Gäste ab, dieser für die Geschichte der freien Presse so bedeutsamen Stunde beizuwohnen.

Wie ein Symbol wirken die Ruinen ringsum - schaurige, aber deutliche Antwort auf Hitlers trügerische Rattenfängermelodien, die zwölf Jahre lang in marktschreierischen Schlagzeilen aus den Rotationsmaschinen dieses Hauses kamen.

Ein Männerchor der Münchner Staatsoper erfreut die Gäste, die sich immer dichter drängen. Dann ergreift Verlagsleiter August Schwingenstein das Wort zu einer Begrüßungsansprache, in der er das Gelöbnis ausspricht, die ganze Kraft in das Gelingen des neuen Werkes zu setzen:

"Wir wollen beweisen, daß in Deutschland der Wille und die Tatkraft vorhanden sind, fleißig, ehrlich und sauber zu arbeiten. Die ,Süddeutsche Zeitung' wird zeigen, dass noch echte demokratische Gesinnung und sozialer Geist in unserem Land leben, sie wird jede Bestrebung, den legalen Aufbau des demokratischen Staates zu stören, im Keime ersticken. Sie wird Propaganda treiben für eine völkerverbindende Außenpolitik und damit für Verständnis gegenüber den Eigenarten der Nationen."

Nun tritt das "Münchner Kindl", verkörpert durch die liebenswürdige Münchener Schauspielerin Adele Hoffmann, vor und überreicht Oberst McMahon mit humorvollen, der unverwüstlichen Feder Hermann Roths, des Nestors der Münchner Journalisten, entstammenden Versen den Willkommenstrunk in althergebrachter Münchner Weise - einen Maßkrug voll Bier, den der amerikanische Offizier unter dem Jubel der Umstehenden mit sichtlichem Behagen bis zur Nagelprobe leert. (Das entlockt sogar dem rührigen Rundfunkreporter einen Ausruf des Erstaunens.)

Mittlerweile ist der Zeitpunkt für den Start der Süddeutschen Zeitung gekommen. Die Gäste begeben sich in die in den Luftschutzkellern des Verlages untergebrachten Betriebsräume, wo in der Gießerei jene symbolische Handlung stattfindet, die weit über Münchens und Bayerns Grenzen hinaus Aufsehen erregt und den Beifall der gesamten zivilisierten Welt gefunden hat.

Im Schmelzofen des automatischen Gießwerkes wird der Originalsatz des Buches eines gewissen Adolf Hitler "Mein Kampf", von dem seit Jahren die Matern dieses schändlichen, von der Weltgeschichte furchtbar widerlegten Machwerkes geprägt wurden, den Flammen übergeben.

Aus dem geschmolzenen Blei dieses "braunen Katechismus", der sich einst vermessen rühmte, die deutsche Auflage der Bibel übertroffen zu haben, wird die Druckplatte der ersten Ausgabe der Süddeutschen Zeitung, des ersten nach zwölf Jahren in München erscheinenden freien, demokratischen Blattes, gegossen.

Es ist ein Augenblick, da jedem der Atem stockt in Erinnerung an vergangene faschistische Schmach, an Terror und Meinungszwang, an teuflische Irrlehren und überhebliche Machtgelüste, die ihren Ursprung fanden in diesem Buch eines Mannes, den die freien Völker der Erde verdammten und den die Geschichte richtete.

Als Oberst McMahon die erste Druckplatte in dem Ofen in eine weißglühende, flüssige Masse aufgehen läßt, und alle anwesenden Gäste von Bayerns Ministerpräsidenten bis zum Zeitungsträger der Reihe nach seinem Beispiel folgen, da ist es uns zumute, als ob wir einer heiligen Handlung beiwohnen, einem frommen Akt der Gerechtigkeit, der gleichsam einen Schlußstrich bildet unter einem durch zwölf Jahre hindurch vergewaltigten Pseudo-Journalismus.

Eine stille Befriedigung liegt auf den Gesichtern derer, die sich unter den Scheinwerfern der Filmberichter der Prozession anreihen, um zu zerstören, was zerstört werden muß, und zugleich aufzubauen, was das Erfordernis für ein neues, besseres Deutschland ist: das Sprachrohr der freien Meinung.

Eine Viertelstunde später drückt Oberst McMahon auf den elektrischen Knopf der Rotationsmaschine. Die Motoren beginnen ihr stampfendes Lied, die Walzen drehen sich, die Papierrollen fliegen über die Druckplatten, um kurz darauf als fertige Zeitung ausgestoßen zu werden. Die Süddeutsche Zeitung ist geboren worden.

Die drei Lizenzträger der Süddeutschen Zeitung, Herbst 1945: August Schwingenstein, Edmund Goldschagg, Franz Josef Schöningh (von links). Schöninghs NS-Vergangenheit war damals noch unbekannt. (Foto: SZ Photo)

Im Falle von Franz Josef Schöningh sollte sich, wie erst Jahrzehnte später der frühere SZ-Redakteur Knud von Harbou herausfand, die Einstufung als unbelastet als Irrtum erweisen: Als "stellvertretender Kreishauptmann" im besetzten Polen war er in den Holocaust verstrickt gewesen. Er hatte dies geschickt verschwiegen. (jkä)

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: