StandortdebatteKontra für den Arbeitnehmerschreck

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Munich-Re-Chef Joachim Wenning beim SZ-Interview: Forderungen, die auf Widerspruch stoßen.
Munich-Re-Chef Joachim Wenning beim SZ-Interview: Forderungen, die auf Widerspruch stoßen. (Foto: Florian Peljak/Florian Peljak)

Feiertage streichen, später in Rente, weniger Kündigungsschutz: Der Chef des Versicherungskonzerns Munich Re macht im SZ-Interview drastische Reformvorschläge. Die Leserinnen und Leser halten dagegen.

Interview „Warum können Deutsche nicht später in Rente gehen?“ vom 14. August:

Arbeitnehmerrechte wie in der Schweiz

Warum nicht zwei kirchliche Feiertage streichen, wenn sowieso immer mehr Menschen aus den Kirchen austreten? Kirchensteuer zu sparen und trotzdem kirchliche Feiertage zu konsumieren, will für mich nicht zusammenpassen. Wenn sich dann aber im weiteren Verlauf ein Herr Wenning zu den aktuell üblichen, deshalb aber nicht unbedingt intelligenten Plattitüden herablässt, möchte ich doch gerne wissen, warum solcherlei ohne Kommentare Ihres Hauses abgedruckt wird. Den Gipfel stellt für mich ausgerechnet der Hinweis auf in der Schweiz weniger vorhandene Arbeitnehmerrechte dar. Ausgerechnet hier nimmt sich ein Herr Wenning die Schweiz als Vorbild!

Es wäre ausnahmsweise einmal sehr erhellend, wenn explizit die Schweiz beim Rentensystem als Vorbild genommen würde. In diesem Land bezahlt auch ein Herr Wenning Rentenbeiträge aus seinem Einkommen und kann sich nicht aus dem sozialen System verabschieden. Die Schweiz hat wie Deutschland ein demografisches Problem, allerdings wird dieses dort nicht ausschließlich auf den Schultern der abhängig Beschäftigten ausgetragen, sondern eben einigermaßen solidarisch.

Lutz Chalupecky, Wernau

Verzerrte Wahrnehmung

Es drängt sich der Eindruck auf, dass Herr Wenning eine bemerkenswert verzerrte Wahrnehmung der Realität besitzt. Es ist schlichtweg absurd, hart erkämpfte Rechte und über Jahrzehnte, wenn nicht sogar Jahrhunderte gewachsene Standards leichtfertig aufs Spiel zu setzen, nur um internationalen Großkonzernen noch höhere Profite zu ermöglichen. Statt unsere bewährten hohen Standards an fragwürdige globale Normen anzupassen, sollten wir vielmehr darauf bestehen, dass die Konzerne ihre Steuern dort entrichten, wo sie ihre Gewinne erwirtschaften. Es ist längst überfällig, Steuerlücken und dubiose Abschreibungsmöglichkeiten für Verluste aus dem Ausland zu schließen, anstatt den ohnehin schon stark belasteten deutschen Arbeitnehmern noch mehr abzuverlangen.

Herr Wenning könnte sich einmal die Zeit nehmen, mit Menschen zu sprechen, die in der Krankenpflege, in Krankenhäusern, in Schulen und Kindergärten, in sozialen Berufen oder bei Polizei und Feuerwehr tätig sind – um nur einige Beispiele zu nennen. Diese Menschen arbeiten oft bereits am Limit, und ihre Arbeit wird selten in angemessenem Maße geschätzt oder gewürdigt, geschweige denn bezahlt. Wenn Teile der Wirtschaft schwächeln, liegt das nicht zuletzt daran, dass in manchen Bereichen ohne Not auf falsche Strategien gesetzt und zukunftsweisende Entwicklungen verschlafen wurden.

Ein weiterer Aspekt betrifft die Diskussion über die Abschaffung von Feiertagen. Die meisten dieser Feiertage in Deutschland haben einen religiösen Hintergrund. Auch wenn der allgemeine Trend in eine andere Richtung geht, gibt es immer noch viele Menschen, die diese Feiertage aus religiösen Gründen feiern. Für alle anderen dienen sie oft der dringend benötigten Erholung von der stressigen Arbeitswelt. Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass Pausen die Produktivität steigern. Das Gerede über ein späteres Renteneintrittsalter kann nur von jemandem kommen, der im Ruhestand so viel Rente beziehen wird, dass er in Wohlstand leben kann – was für die überwiegende Mehrheit der Deutschen nicht zutrifft.

Herr Wenning erscheint mir als eine Person, die durch vereinfachende und populistische Argumente auffällt und dabei oft den Eindruck erweckt, dass ihr ein tieferes Verständnis für die tatsächlichen Zusammenhänge fehlt.

Dr. Christian Trippner, Abensberg

Tipps vom Spitzenverdiener

Kein Vorstandsvertreter, egal von welchem Unternehmen, leistet so viel, dass ein Jahresverdienst von 6,5 Millionen Euro, wie es Joachim Wenning im Jahre 2023 bezogen haben soll, gerechtfertigt wäre. Gemessen an ihrer Verantwortung verdienen Menschen wie zum Beispiel der Bundeskanzler und andere derartige Entscheidungsträger geradezu ein Trinkgeld.

Und dann erdreistet sich der Munich-Re-Chef, dem normalen Arbeitnehmer, der in Städten wie München mit seinem Gehalt gerade so über die Runden kommt, vorzuschreiben, wie viel und wie lange er arbeiten soll. Nur weiter so: Die Menschen haben schon genug Wut im Bauch. Auch ich bin mal wütend, mal traurig, vor allem aber müde und erschöpft in und von diesen Zeiten. Als Rentnerin (72) habe ich mittlerweile den Glauben an ein gutes und gerechtes Deutschland verloren.

Christine Selb, München

Kein motivierender Denkansatz

Will Herr Wenning provozieren, um mehr Aufmerksamkeit zu erzielen? Das ist sein gutes Recht. Oder will er wirklich etwas erreichen und verändern? Dann ist er meiner Meinung nach auf dem Holzweg. Ich stimme Herrn Wenning zu, dass sich etwas ändern muss. Wenn er aber meint, dass er gesteigerte Produktivität mit Ansätzen erreicht, die in den 50er-Jahren funktioniert haben, liegt er falsch.

Erstens: Das Industriezeitalter ist längst vorbei! Überlegene Technologie und die damit gesteigerte Produktivität erreiche ich nicht durch Mehrarbeit, sondern durch bessere, schlauere und kreativere Arbeitsumfelder. Zweitens: In diesem Zusammenhang müssen Führungskonzepte überarbeitet werden. Es braucht mehr Kooperation und vertrauensvolle Zusammenarbeit. Und auch eine neue Definition des Begriffs Performancekultur. Drittens: Unsere Gesellschaft hat sich geändert und weiterentwickelt, und zwar über die Generationen hinweg. Es dürfte schwer sein, mit dem dargelegten Denkansatz Talente zu motivieren, zur Munich Re zu kommen. Politik muss einen Rahmen für die Wirtschaft schaffen. Die Verantwortung für gute Führung und Motivation liegt aber in den Unternehmen und auch bei den Vorständen.

Anne Rösener, Emmering

Analyse greift zu kurz

Die Analyse von Munich-Re-Chef Joachim Wenning spannt einen zu kurzen Bogen. Schließlich dürfte die stagnierende Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft auch etwas mit einem erheblichen Modernisierungsstau in vielen Firmen zu tun haben, der sich zum Beispiel darin widerspiegelt, dass trotz eines gerne beklagten Fachkräftemangels nicht wenige Personalabteilungen die Bewerbungen von älteren Arbeitnehmern oder Menschen mit einem nicht linearen Lebenslauf von vornherein aussortieren. Deshalb erscheint es hier äußerst zweifelhaft, ob eine Beschneidung von Arbeitnehmerrechten wirklich etwas an den gegenwärtigen Problemen ändern würde. Zumal es ebenfalls in vielen Betrieben an den richtigen agilen Strukturen für mehr Innovationen mangelt, indem weiterhin sehr oft lieber an starren Hierarchien und einsamen Führungszirkeln festgehalten wird, anstatt die Talente der eigenen Beschäftigten bestmöglich zu nutzen. Obwohl letztere gerade bei den neuesten digitalen Technologien wie der künstlichen Intelligenz nicht selten schon durch ein privates Interesse am Coden und Prompten über ein äußerst wertvolles Wissen verfügen.

Rasmus Ph. Helt, Hamburg

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